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PORTRÄT LISA ANDERSON UNI-PRÄSIDENTIN IN KAIRO:: „Die Probleme bestehen seit 100 Jahren“

Vor ein paar Wochen diskutierte Lisa Anderson mit ihrem Fahrer und ihrem Bodyguard die politische Lage in Ägypten. Als der Bodyguard sich nicht äußern wollte, herrschte ihn der Fahrer an: „Aber du musst jetzt eine Meinung haben!

Vor ein paar Wochen diskutierte Lisa Anderson mit ihrem Fahrer und ihrem Bodyguard die politische Lage in Ägypten. Als der Bodyguard sich nicht äußern wollte, herrschte ihn der Fahrer an: „Aber du musst jetzt eine Meinung haben!“ Das Land, sagt die Präsidentin der American University in Cairo (AUC), ist im Aufbruch. „Die Ägypter sehen sich heute als Bürger, nicht als Untertanen. Im Moment sind sie dabei herauszufinden, was es bedeutet, Bürger zu sein.“

In der Region sei ein System zusammengebrochen, das vor 100 Jahren installiert wurde, sagte Anderson vor einigen Tagen bei einem Besuch in der American Academy in Berlin. 1919 habe die League of Nations die Reste des Osmanischen Reiches geordnet, ohne zu viel Rücksicht auf alte Strukturen und Loyalitäten zu nehmen. „Die Konflikte bestehen seit 100 Jahren. So zu tun, als gäbe es sie nicht, war ein Fehler.“

Anderson ist seit 2011 Präsidentin der Universität, drei Jahre zuvor war sie von der Columbia University als Provost an die AUC gewechselt. Die Ereignisse in Kairo konnte die Politikwissenschaftlerin aus nächster Nähe verfolgen: Ein Teil des Campus grenzt an den Tahrir-Platz, mehrere Studenten kamen bei den Unruhen um. „Wir haben alles auf dem Campus“, sagt Anderson, Anhänger der Muslimbrüder wie Liberale. Zu den Absolventen gehören die Mubarak-Söhne ebenso wie Mitglieder der gegenwärtigen Regierung.

Bei aller Kritik an dessen historischer Hinterlassenschaft betrachtet die Amerikanerin die liberalen Werte des Westens als Grundlage für die weitere Entwicklung des Landes. Die Ägypter, sagt Anderson, müssten lernen zu verhandeln und aus einer Weltsicht ausbrechen, die nur Sieger oder Verlierer kennt. Dabei komme auch der 1919 gegründeten AUC eine Rolle zu: als Arena, in der offen geredet werden kann. Im Wahlkampf hätten sich dort zum Beispiel alle Kandidaten den Studenten gestellt, ein Novum in der Geschichte des Landes. „Wir machen das ziemlich gut“, sagt sie selbstbewusst.

Die kommenden Monate würden zeigen, ob sich die Armee einem liberalen System unterwirft, ob die gewaltbereiten Muslimbrüder abgespalten werden können, ob Ägypten seine zweite Chance nach 1919 nutzen kann. Dazu müsse sich vor allem die wirtschaftliche Lage verbessern. Im Land gebe es zwar plötzlich 85 Millionen Politikwissenschaftler, sagt Anderson, aber keine Wirtschaftswissenschaftler. Moritz Schuller

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