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Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD)

© dpa/Kay Nietfeld

Deutschland kann viel lernen aus Corona: Ohne lebendige Debattenkultur ist die Wissenschaft nichts wert

Falsche Entscheidungen in der Corona-Politik seien nicht zu verhindern gewesen, sagt Lauterbach. Das stimmt nicht ganz – denn viele Mitentscheider waren einfach neunmalklug.

Ein Kommentar von Thomas Trappe

Auf einmal geht es ganz schnell. Nachdem gerade mit Berlin und Brandenburg die letzten Bundesländer die Isolationspflicht für Corona-Infizierte abgeschafft haben, folgt nun zum 1. März das flächendeckende Ende der Masken- und Testpflicht für Mitarbeitende in medizinischen Einrichtungen – bevor dann spätestens am 7. April die wenigen noch verbleibenden Beschränkungen auslaufen.

Ist nun alles vorbei, können wir Corona hinter uns lassen? Nun, hoffentlich nicht – wir müssen, auch wenn es schmerzen mag, noch einmal einen etwas intensiveren Blick in die jüngere Vergangenheit werfen. Um nicht Gefahr zu laufen, die gleichen Fehler beim nächsten Mal zu machen.

Der Gesundheitsminister tut es gerade auf seine Weise. Maskenpflicht im Freien: „Schwachsinn“. Schul- und Kitaschließungen: falsch, schädlich, aus heutiger Perspektive geradezu fatal. Panikkommunikation mit der drohenden Corona-Killervariante: ach, „lassen wir das K-Wort“.

Für manche Kritiker überzogener Corona-Maßnahmen, vor allem übereiliger Beschlüsse zulasten von Jugendlichen und Kindern, mögen die jüngsten Eingeständnisse Karl Lauterbachs eine Wohltat sein. Für jene mit einer gesunden Abneigung gegen Selbstbezogenheit und politische Verklärung sind sie weiterhin schwere Kost.

Denn es ist überdeutlich, welches Narrativ Lauterbach – und mit ihm viele andere – in den vergangenen Wochen zu etablieren versuchen: Dass die Corona-Politik von Beginn an stets getrieben war vom aktuellen Stand der Wissenschaft. Man habe es nicht besser gewusst und daher falsche Entscheidungen getroffen. Schade drum, nicht zu ändern, hinterher ist man immer klüger. Allein: Stimmt halt nicht. Viele waren vorher einfach nur neunmalklug.

Denn es fehlte, spätestens in der zweiten Jahreshälfte des ersten Corona-Jahres, nicht an deutlich vernehmbaren Stimmen, die in aller Eindringlichkeit und aus heutiger Sicht mit großer Prognosegenauigkeit zum Beispiel vor den wahrscheinlichen psychischen Folgen von Schul- und Kitaschließungen warnten.

Auf die Idee, dass eine Pflicht zum Tragen einer Maske beim Joggen oder das Verbot, sich allein im Park auf eine Bank zu setzen, „Schwachsinn“ sein könnten, kamen damals nicht nur sehr viele Menschen, sie haben es auch unmissverständlich artikuliert.

Gesprochen werden muss daher nun intensiv – gerne auch im Rahmen eines parlamentarischen Ausschusses – über einen Kollateralschaden der Pandemie, nämlich die nachhaltige Erschütterung der politischen Debattenkultur.

Wer in der Hochphase der Pandemie falsch lag, liegt auch jetzt falsch

Wenn man heute die Maßnahmen der ersten beiden Corona-Jahre entkernt um jene, die inzwischen rundheraus als falsch gelten oder deren Nutzen mittlerweile als bestenfalls höchst unsicher zu gelten hat, dann fallen viele der vermeintlichen Gewissheiten in sich zusammen wie ein Coronavirus an der frischen Luft. Zu nennen wären hier etwa noch die 2G-Regelungen oder fast schon zynische Regelungen für Angehörige von Pflegeheimbewohnern und bei Beerdigungen.

Die Einsicht zu eigenen Fehlern müsste dann allerdings auch dazu führen, dass man die Berichterstattung zu etlichen anderen Themen ebenso deutlich hinterfragt. 

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Wenn maßgebliche Stimmen aus Politik, Medien, Wissenschaft nun aber aus heutiger Sicht falschlagen, dann lagen sie auch damals falsch. Und die Logik gebietet dann das Zugeständnis an viele der damaligen Kritiker: Dass sie in einigen Punkten wohl recht gehabt haben müssen.

Zu den Debatten um Schulschließungen sagte Karl Lauterbach gerade im Spiegel-Interview einen fast schon entlarvenden Satz: „Die Stimmen, die eine Ansteckungsgefahr durch Kinder anerkannt haben und sich trotzdem gegen Schulschließungen ausgesprochen haben, waren nicht laut genug.“ Nun ja, das waren sie sehr wohl.

Allein, bis heute wird ihnen vorgeworfen, Propagandisten einer unverantwortlichen „Durchseuchungsstrategie“ zu sein, die das Leben der Kinder und ihrer Angehörigen gefährde. Dies ist nur ein Beispiel von vielen für eine völlig verunglückte politische Kommunikation während der Corona-Pandemie.

Natürlich geht es nun bei einer wie auch immer gearteten Aufarbeitung nicht darum, im Nachgang den Reichstag stürmende Demokratiefeinde zu legitimieren; um rechtsesoterische Spinner, die schon im Infektionsschutzgesetz als solchem einen Affront sahen; oder um jene, denen die „Corona-Diktatur“ aufleuchtete, sobald sie gebeten wurden, sich die Hände zu waschen.

Aber genau mit Verweis auf jenes sehr spezielle Soziotop beginnt ja das Problem. Denn die vergiftete Unsitte, der alles prägende Kurzschluss in der Hochzeit der Pandemie, war es stets, die extremen Ränder, die skurrilsten Auswüchse zu Repräsentanten zu überhöhen für alle Skeptiker, Kritiker und Gegner bestimmter Corona-Maßnahmen.

Es ist fast unerheblich, wer im Nachhinein am häufigsten richtig lag

Das traf Eltern und Elterninitiativen, die sich für offene Schulen einsetzten. In den Strudel gerieten in ihrem Fach angesehene, vormals völlig unverdächtige Wissenschaftler, Pädiater zum Beispiel oder Kinder- und Jugendpsychotherapeuten.

Ebenso erging und ergeht es Politikern, die sich früh für eine die Grundrechte betonende und Grundrechtseinschränkungen vermeidende Pandemiepolitik einsetzten. Welche Blüte das trieb, zeigte sich zuletzt ironischerweise darin, dass selbst Lauterbach und Christian Drosten von offenbar radikalisierten Teilen ihrer eigenen Fans des „Querdenkertums“ bezichtigt wurden.

 Es gab nach damaligen Erkenntnisstand allerdings nachvollziehbare Argumente sowohl dafür als auch dagegen. Im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer.

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Es ist fast unerheblich, wer im Nachhinein am häufigsten richtig lag, wer am derbsten daneben. Was nicht egal ist: Dass die Zuschreibungen, die einigen Maßnahmenkritikern in der Pandemie widerfuhren, weil sie im Widerspruch standen zu einer teils hysterisch getriebenen gesellschaftlichen Stimmung, nicht im Nachgang perpetuiert werden. Denn dann würden aus Kritik, die sich im Nachhinein als richtig erwiesen hat, Kritiker, die zwar richtig gelegen haben, aber trotzdem daneben.

Die Botschaft, dass es in einer Krisensituation wie der zurückliegenden das beste Mittel ist, eigene Überzeugungen hintanzustellen, aus Angst, sich am Rand des gesellschaftlichen Diskurses wiederzufinden, wäre eine der schlimmsten Folgen, die die Pandemie gesellschaftspolitisch zeitigen würde.

Deutschland kann viel lernen aus Corona. Für manches braucht es keine Wissenschaft, sondern vor allem eine liberale Offenheit für die Zumutungen einer lebendigen Debattenkultur, die einen breiten Austausch ermöglicht – und nicht durch diskursive Verhärtungen größtmöglich einengt. Ein leichter Prozess wird diese Aufarbeitung nicht, aber sie ist nötig. Mit dem Anspruch auf absolute Deutungshoheit sollte mit Blick auf die zurückliegenden Jahre dabei niemand, wirklich niemand, auftreten.

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