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Abschlusspressekonferenz nach der Klausurtagung des Bundeskabinetts auf Schloss Meseberg.

© Foto: Imago/Political-Moments

AKW-Laufzeiten, Tempolimit, Vermögensteuer : Die Ampel traut sich nicht, richtig zu streiten

Die Koalition klammert sich an den kleinsten gemeinsamen Nenner. Gesellschaftliche Mehrheiten werden ignoriert. Das ist gefährlich.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Die Stimmungen der Wähler sind oft wechselhaft und launisch. Auch deshalb ist Deutschland eine repräsentative Demokratie. Nicht Umfragen bilden die Grundlage für Entscheidungen, sondern Mehrheiten im Parlament. Über dessen Zusammensetzung wird auf Bundesebene alle vier Jahre entschieden.

Außerdem fragen Demoskopen nur selten nach der Intensität einer politischen Willensbekundung. Folgt aus ihr auch eine Parteienpräferenz? Schließlich kann es vorkommen, dass jemand für den Neubau von Atomkraftwerken ist und trotzdem die Grünen wählt, etwa wegen deren liberaler Flüchtlingspolitik. Weil Parteien gewählt werden, nicht Personen, muss das Gesamtpaket stimmen.

Allerdings kann es Konstellationen geben, die es erschweren, dass sich gesellschaftliche Mehrheiten in politische Mehrheiten umsetzen. Eine solche Konstellation ist die Ampel. Drei Parteien, die wenig eint, bilden ein Regierungsbündnis, das nur funktioniert, weil bestimmte Streitthemen kategorisch ausgeschlossen wurden. Die Schnittmenge der gemeinsam verfolgten Ziele ist klein. Peinlich genau wird auf die Einhaltung des Koalitionsvertrages geachtet. Dazu drei Beispiele.

Eine Mehrheit der Deutschen ist für ein Tempolimit auf Autobahnen, zeigt eine Umfrage von YouGov. Das spart Sprit, schützt das Klima und macht unabhängig von Ölimporten. Doch die FDP setzte im Koalitionsvertrag durch: „Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben.“

Daran wird – trotz der Energiekrise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine – nicht gerüttelt. Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner sagt: „Ich kann nur warnen, Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag jetzt mit dem Argument des Krieges zur Disposition stellen zu wollen.“

Mehr als 80 Prozent der Deutschen sind dem ARD-Deutschlandtrend zufolge für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken. 41 Prozent wollen den Betrieb um einige Monate strecken, ebenfalls 41 Prozent sind dafür, die Atomenergie auch langfristig zu nutzen.

Doch weil das „Atomkraft? Nein danke“ zur DNA der Grünen gehört, konnte ihnen der Bundeskanzler selbst mit seinem Machtwort nicht mehr abringen als den Weiterbetrieb von drei AKWs bis Mitte April 2023. Das bleibt hinter den Hoffnungen der Bevölkerung zurück.

Eine Mehrheit der Deutschen will Reiche zur Kasse bitten, at das Ifo-Institut ermittelt, um die Verteilungsungerechtigkeit zu bekämpfen. 76,5 Prozent befürworten eine Vermögensteuer für Reiche. Das aber kollidiert mit dem Dogma der FDP, demzufolge es keine Steuererhöhungen geben darf.

Wenn aus Gründen der Koalitionsräson bestimmte Themen tabuisiert werden, entsteht ein Repräsentationsdefizit. Schon im Herbst vergangenen Jahres fühlten sich viele Menschen von der Politik nicht beachtet, wie die Bertelsmann Stiftung herausfand. Nur jeder fünfte stimmte der Aussage zu: „Die Politik kümmert sich ausreichend um Leute wie mich.“

Zwei Drittel der Deutschen lehnen das Gendern ab

Kein Wunder, dass eine Partei wie die AfD versucht, die Repräsentationslücken zu füllen. Dabei beweisen ihre Vertreter Gespür für Mehrheitsstimmungen, die sonst kaum aufgegriffen werden. Zwei Drittel der Deutschen lehnen etwa das Gendern in Medien und Öffentlichkeit ab, sagt eine Umfrage von infratest dimap. Bei den Öffentlich-Rechtlichen zeigt man sich davon unbeeindruckt.

Auch die Inszenierung der AfD als Interessenvertreterin der Polizei folgt diesem Kalkül. Die Partei wettert insbesondere gegen eine zu geringe Wertschätzung und vermeintlich linksextremistische Angriffe. Denn sie weiß: Das Gros der Bevölkerung, so das Ifo-Institut, vertraut den Sicherheitsbeamten.

Wenn eine Ampel regiert, die den kleinsten gemeinsamen Nenner nicht aus den Augen verlieren darf, und eine rechtspopulistische Partei auf der Lauer liegt, um brachliegende Reizthemen rhetorisch hochkochen zu können, müsste die Stunde der Union schlagen. Sie ist die stärkste Oppositionskraft. Doch programmatisch kommt wenig von ihr. Hier und da stichelt sie, mehr nicht.

Schwache Opposition trifft auf heterogene Regierung. In Ostdeutschland liegt die AfD einer Insa-Umfrage zufolge bereits auf Platz eins, bundesweit bei 15 Prozent.

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