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Landeshauptstadt: Unterwegs mit Kamera und Geigerzähler

Der Potsdamer Stefan Bär dokumentiert den Verfall. Im Herbst fährt er in die Ukraine und fofografiert in und um Tschernobyl

Wenn andere ihren Urlaub an der Ostsee oder in der Provence verbringen, ist Stefan Bär in der Ukraine unterwegs. Dann wird er tagelang durch Prypjat laufen, die mehrere Kilogramm schwere Fotoausrüstung im Rucksack. Er ist einer von geschätzt einer Million Touristen, die es seit Kurzem jedes Jahr in die verlassene Stadt neben dem Kernkraftwerk Tschernobyl zieht. 2011 wurde die bis dato komplett gesperrte Zone offiziell für den Tourismus geöffnet.

Er reise nicht aus Voyeurismus, sagt Stefan Bär, der noch keine zehn Jahre alt war, als das Reaktorunglück im April 1986 die Stadt, die Sowjetunion, die ganze Welt in eine Art Ausnahmezustand versetzte. Der Hobbyfotograf findet in den Ruinen der verlassenen Stadt Fotomotive. Denn die Stadt, in der einst 50 000 Einwohner lebten, ist ein einzigartiges Zeugnis einer gesellschaftlichen Katastrophe. Weil den Anwohnern gesagt wurde, sie würden nach wenigen Tagen bereits in ihre Heimatstadt zurückkehren, ließen viele bei der plötzlichen Evakuierung persönliches Hab und Gut zurück. Die Stadt sah aus, als könnte sie jederzeit wieder bezogen werden – doch das passierte nie.

Fast 30 Jahre später sehe man es den Gebäuden und Straßen noch immer an, was dort geschah, sagt Bär. Zwar gab es Plünderer, die in die Sperrzone eindrangen, aber die Ruinen und die Stimmung der toten Stadt konnte niemand wegtragen. Stefan Bär reist im Oktober das zweite Mal mit einer Gruppe nach Prypjat. Etwa 30 Anmeldungen, Menschen aller Alters- und Berufsgruppen, gibt es schon, einige Mitfahrer werden noch gesucht.

„Es ist eine Fotoreise, wir sind täglich unterwegs, von morgens bis abends, das ist anstrengend“, sagt Stefan Bär. Guides gehen vor Ort auf die Wünsche der Reisenden ein, führen durch die verlassene Stadt. Auch die Kraftwerksruine wird besucht. Die Unterbringung erfolgt in der Arbeiterwohnstadt Slawutytsch, eine 1986 neu gegründete, moderne Ersatzkleinstadt, 50 Kilometer östlich von Prypjat. „Wir gehen abends auch mal weg, natürlich ukrainisch essen und trinken – und anschließend in die russische Sauna“, sagt Stefan Bär. Und empfiehlt, die Reise mit drei Tagen in Kiew zu beenden: „Das ist eine sehr schöne Stadt.“

Als Schüler begann er zu fotografieren, ging zum Fotoklub im Pionierhaus, dem heutigen Treffpunkt Freizeit. Heute hat er beruflich mit Bildern zu tun, sein Unternehmen deckt Urheberrechtsverletzungen an Bildern im Internet auf. Und er gehört zu einer Fotografen-Szene, die sogenannte Urban Exploration betreibt: die Erkundung besiedelter Räume. Gemeint sind dabei verlassene und vergessene Orte, Häuser, Bunker, Parks. Über Facebook hält die offene Gruppe – Hobbyfotografen aus Potsdam, Berlin und Brandenburg – miteinander Kontakt. Wöchentlich gibt es Fotoausflüge zu geheimen Orten. „Sonst kommen schnell Kabeldiebe, Randalierer, Graffitisprayer – das wäre ja kontraproduktiv“, sagt er. Denn es geht darum, den Verfall der alleingelassenen Orte zu fotografieren, stundenlang. So entsteht eine Dokumentation, die sich, bei wiederholten Besuchen, über Jahre und Jahrzehnte erstrecken kann.

Dazu gehört für Stefan Bär auch, dass er die Geschichte der Orte recherchiert. Es sei Gänsehaut, wenn man in genau dem Beratungsraum in der Kaserne Krampnitz steht, in dem der berüchtigte Panzergeneral Heinz Guderian Strategien für den Russlandfeldzug entwickelte. Die Suche nach dem Geheimnisvollen ist für Bär eine Herausforderung. „Ich fühle mich dabei wie ein kleiner Indiana Jones. Wenn ich eine Mauer sehe, muss ich wissen, was dahinter ist“, sagt er. Unzählige Male ist er durch die verlassenen Ruinen in Krampnitz geklettert, hat im Potsdamer Haus der Offiziere in der Hegelallee fotografiert. Die Beelitzer Heilstätten findet er fast schon langweilig. Spannend dagegen ein altes Krematorium im Umland, eine Kinderklinik im Norden, eine Fleischfabrik und der alte Bunker unter dem ehemaligen Berliner Reichsbahnministerium. Morgens um fünf Uhr sind sie dort hinein, mittags wieder aufgetaucht, in ihren Gummistiefeln und völlig eingedreckt, rannten zu ihren Autos und verschwanden. Stefan Bär lacht, als er sich daran erinnert.

„Es ist so halblegal, was wir machen“, sagt er. Doch es gibt auch Regeln in der Fotoszene: Nichts zerstören und verändern, nichts als die eigenen Fußspuren am Ort zurücklassen. Und niemals allein losziehen – aus Sicherheitsgründen. „Wir haben immer eine Erste-Hilfe-Ausrüstung, eine kleine Werkzeugauswahl, Telefone und Funkgeräte dabei“, sagt Bär. Es passiere selten, sei aber schon vorgekommen, dass sich jemand verletzt, schlimmstenfalls durch eine Decke einbricht. Ihm selbst begegneten lediglich ein Fuchs und einmal sogar ein Wildschwein, die er in den Ruinen aufgescheucht hatte.

Wie gefährlich ist eine Reise in die Region um Tschernobyl? „Darüber existiert viel Halbwissen“, sagt Stefan Bär. Die Strahlenbelastung über drei Tage gerechnet sei nicht höher als bei einem Transatlantikflug. Außerdem werde alles getan, um eine Kontaminierung zu vermeiden. Lange Bekleidung in der Sperrzone ist Pflicht, auf dem Rückweg geht es an Geigerzählern vorbei, durch mehrere Schleusen. Die Fotoausrüstung immer gut abwischen und zu Hause die Sachen normal in der Maschine waschen, empfiehlt er. „Man darf keine Angst davor haben – Respekt ist aber nicht verkehrt.“

Kontakt zu Stefan Bär über die Internetseite www.iso110.com.

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