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Kultur: Zwei Berliner Kinos zeigen Klassiker der russischen Filmgeschichte

"Alles Lüge" bricht es aus ihm heraus, Entsetzen starrt aus seinen Augen und er weiß jetzt, dass er der letzte Zar des russischen Volkes ist, er, Nikolaus II, der weiche, kunstsinnige Familienvater. Sein schütteres Haar liegt elegant pomadisiert auf der Stirn, aus seinem fein geschnittenen Bart meint man sogar im Kinosaal noch einen Hauch Parfüm zu spüren.

"Alles Lüge" bricht es aus ihm heraus, Entsetzen starrt aus seinen Augen und er weiß jetzt, dass er der letzte Zar des russischen Volkes ist, er, Nikolaus II, der weiche, kunstsinnige Familienvater. Sein schütteres Haar liegt elegant pomadisiert auf der Stirn, aus seinem fein geschnittenen Bart meint man sogar im Kinosaal noch einen Hauch Parfüm zu spüren. Und nun bricht es heraus aus diesem zarten Gesicht, aus diesem kultivierten Bart, viel zu schön, es mit dem heillos zerzausten Haar seines Widersachers aufzunehmen, der sich als Heiliger ausgibt und doch wie ein Tier vor ihm auf dem Boden kauert: Grigorij Rasputin.

Aus Elem Klimows Film "Agonia" von 1985 stammt diese Szene, dieses Duell zweier bärtiger Köpfe - rundgeschliffener Bojarenbart der eine, spitz zulaufender Heiligenbart der andere. Beides Typen, Ikonen der russischen Filmgeschichte: Ivan der Schreckliche, dessen Spitzbartprofil Sergej Eisenstein wie einen vorwärtspreschenden Schiffsbug gegen die rund umkränzten Bojarengesichter montierte. Andrej Rubljow, den Regisseur Andrej Tarkowskij mit traurig herunterhängendem Jesusbart durch die Leichenberge gehen lässt, die rundfrisierte Tataren und Großfürsten in einer zerstörten Kirche zurückgelassen haben. Und eben dieser schmierige Wunderheiler Rasputin.

In einer großen russischen Filmreihe, die die Berliner Kinos Blow-Up und Nord bis zum 8. März zeigen, sind diese wichtigen Filme jetzt wieder zu sehen. Entdecken kann man da nicht nur eine Kulturgeschichte des Bartes, sondern auch, wie sehr sich etwa die traumhaft langen Einstellungen eines Andrej Tarkowskij nicht nur abgrenzen gegen die Schock-Schnitt-Therapie des großen Filmvaters Sergej Eisenstein, sondern gerade auch auf sie verweisen. Denn wenn Tarkowskijs Kamera mit dem geistigen Auge seines Ikonenmalers Rubljow auf dem Rücken einer Taube über die Kremlmauern von Wladimir schwebt und den Einfall der Tartaren verfolgt, dann blendet sich unsichtbar darüber auch die Festung von Kasan, die Eisenstein 30 Jahre vorher von einem Berg aus für seinen Zar Ivan ins Visier genommen hatte.

Die Macht ist aus den Fugen in all diesen Filmen. Lüge und Wahrheit, Intrige und Vertrauen verhaken sich ineinander. Aber mehr noch als den Kampf zweier Parteien sind die russischen Filme bestimmt von der Verwirrung, die die Menschen in sich selbst erzeugen, in ihren Träumen und Wahnvorstellungen. Das gilt für Zar Ivan, der hinter jedem Schatten einen Feind wittert, doch die todbringende Gefahr der eigenen Mutter nicht erkennt. Für den Ikonenmaler Rubljow, der mit blutverschmierten Händen vor seiner verbrannten Ikonenwand steht und alle Heiligkeit in seiner Kunst verloren glaubt. Und das gilt auch für den Hochstapler Rasputin, der den erlösungssüchtigen russischen Adeligen am Ende ihrer Tage das vorgaukelt, wonach er selbst süchtig wird: göttliche Macht.

Erst vier Jahre nach seiner Entstehung kam Elem Klimows "Agonia" in die sowjetischen Kinos - zu gutmütig erschien den Breschnewschen Behörden der parfümierte Bart des Zaren. Genau 40 Jahre vorher tadelte auch Stalin die Bartmanie seiner sozialistischen Kinohoffnung Eisenstein. Der Diktator, der sich noch 1943 in dem ersten Filmteil über die Krönung und Machtsicherung des jungen Ivan problemlos wiedererkennen konnte, sah sich nun, 1945, in dem Porträt des reifen Zaren als gespaltene Persönlichkeit. Zu viel Hamlet und zu wenig Stalin fand Stalin. Und er protestierte, dass Eisenstein weniger von der Machtausbreitung des Zaren erzählt als mit seinem Schatten und seinem Bart spielt. Den Auftrag, den Bart zu kürzen und den Film neu zu drehen nahm Eisenstein an. Vielleicht aus sozialistischem Idealismus, vielleicht auch aus der Lust des Unermüdlichen, mit Vorhandenem immer wieder neu zu experimentieren. Denn so auch fing Eisenstein an: er zerschnitt altes Filmmaterial und klebte es neu zusammen. Eine Übung in Zufall aber war ihm die Filmmontage nie, denn gerade die Wirkung, die die Kombination der Einstellungen auf die Wahrnehmungen macht, hielt er für das Wichtigste. Mit Kunst wollte Eisenstein den Gedankengang der Menschen lenken wie Pawlow den Speichelfluss der Hunde. Und mit seinem Revolutionsfilm "Oktober" von 1927, so scheint es, hat er das erreicht, denn der Sturm auf das Winterpalais wird nie anders als mit seinen Bildern illustriert.

Eisensteins Film "hat bereits aufgehört, ein Filmwerk im eigentlichen Sinne zu sein", er ist "Alltagsoper", verurteilt Andrej Tarkowskij den großen Kollegen. Tarkowskijs Filme selbst aber sind endlos ausgedehnte Klänge. Freilich keine Klangfeuerwerke, sondern Einstellungen, die nach innen wirken. "Lebensbeobachtungen" stehen im Mittelpunkt seiner Filme, keine Montage. Was Tarkowskij über seinen Rubljow sagt, gilt auch für die Figuren seiner anderen Filme: Allesamt vollziehen sie eine "Rückkehr in den eigenen Kreis".

Nicht nur Palastfilme gehören zu den Kinoschätzen Russlands. Die Literaturverfilmungen Nikita Michalkows aus den späten siebziger und frühen achtziger Jahren sind sommerhelle Konversationsstücke, die mit Gontscharows Fürst Oblomow durch seinen Traum vom ziellosen Leben wandern oder mit Tschechows Platonow allen Ideenenthusiasmus in die Wolga werfen. Und gerade in sozialistischen Welten gibt es immer wieder kleine Wunder, die in kapitalistischen Welten zu entdecken sind. Die Bürokratie-Satire "Das Blaue vom Himmel" des georgischen Regisseurs Eldar Schengelaja gehört sicher dazu.Bis 2. Februar "Tage aus dem Leben Ilja Oblomows" von Nikita Michalkow (Blow Up), Eisensteins "Ivan der Schreckliche" (Nord). Anschließend jeweils eine Woche im Blow Up: "Agonia" von Elem Klimov, Eisensteins "Oktober", "Sechsundzwanzig Tage aus dem Leben Dostojewskis" von Alexander Sarchi, Nikita Michalkows "Unvollendete Partitur für ein mechanisches Klavier", "Das Blaue vom Himmel" von Eldar Schengelaja. Im Kino Nord, ebenfalls im Wochenrhythmus: Andrej Tarkowskijs "Andrej Rubljow", "Stalker", "Der Spiegel", Alexander Askoldows "Die Kommissarin", Elem Klimows "Geh und sieh".

Doris Meierhenrich

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