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Kultur: Wenn schon Überforderung, dann richtig

Alexander Nerlichs Klassikerbearbeitungen prägten die Intendanz von Tobias Wellemeyer. Heute legt er die letzte vor: „Verbrechen und Strafe“

Der Mann steht unter Strom. Kein gewöhnlicher Kurz-vor-der-Premiere-Strom ist das, sondern etwas Grundsätzlicheres – etwas, ahnt man, das sich nicht gelegt haben wird, wenn die heutige Premiere geschafft ist. Wobei es für den Regisseur Alexander Nerlich mindestens zwei Gründe gäbe, dem heutigen Abend, der zehnten Premiere, die er am Hans Otto Theater vorlegt, anders als anderen entgegenzufiebern. Erstens: Es ist nach jetzigem Stand der Dinge die letzte Inszenierung, die Alexander Nerlich am Hans Otto Theater zeigen wird. Zweitens: Es ist Dostojewski, ausgerechnet. „Verbrechen und Strafe“. 800 Seiten. Bühnenfassung: Alexander Nerlich.

Für Pressegespräche bleibt da nicht viel Zeit, genauer gesagt: exakt 20 Minuten. Mit etwas Mühe lässt sich Alexander Nerlich, Jahrgang 1979, immerhin davon abhalten, einen Wecker zu stellen. Aber das Gute an Menschen, die unter Strom stehen, ist, dass sie in 20 Minuten so viel sagen können wie andere in zwei Stunden.

Alexander denkt oft filmisch, hatte der Bühnenbildner Wolfgang Menardi über Nerlich gesagt, für den er in Potsdam viele Bühnen baute. Im Gespräch mit Alexander Nerlich erkennt man , was Menardi gemeint haben könnte. Ihm zuhören, heißt, in einen flimmernden Gedankenstrom eingesogen zu werden, eine bildsatte Gedankenwelt, in der Außen und Drinnen, Selbstbeobachtung und Gesellschaftsanalyse aufs Engste ineinandergreifen.

Vielleicht muss man sich Alexander Nerlichs Kopf auch gar nicht filmisch vorstellen, sondern eher wie die Bühne, die Erwin Piscator in den 1920er Jahren gebaut hat: Gestern, Heute, Gesellschaft, Privates, Filme, Literatur – alles lauter Parallelräume, die offen einsehbar nebeneinander liegen. Und der Regisseur Alexander Nerlich geht dazwischen spazieren, dabei immer nahe entlang am Stücktext, mit dem er sich gerade beschäftigt. Denn Nerlich ist keiner, der Textvorlagen mit seiner eigenen Fantasie zuschüttet. Im Gegenteil, er hört genau hin. Dafür, für maximale Textnähe bei maximaler gedanklicher Freiheit, wurden seine Potsdamer Klassikeradaptionen überregional bekannt. Eine Ausnahmeerscheinung.

In gewisser Weise sind auch die Menschen in Alexander Nerlichs Stücken Bühnen mit vielen Räumen. Oder sagen wir, sie sind mindestens zwei. Eine Figur ist immer potenziell auch jemand anderes, eine Handlung potenziell auch ihr Gegenteil. Das macht seine Inszenierungen so klug. In Nerlichs „Urfaust“ war das am deutlichsten: Mephisto war hier Fausts Spiegelbild.

Auch in „Peer Gynt“, für den er 2016 eine Nominierung für den Friedrich-Luft-Preis erhielt, standen der junge und der alte Peer einander gegenüber – zwei Versionen eines Daseins. In „Huxleys neue Welt“ übersetzte er das Doppelgänger-Motiv in den Bühnenraum: Die neue und die alte Welt konnte man hier unabhängig voneinander besuchen, beide trennte der Eiserne Vorhang. Welche der Welten die bessere war, das überließ Nerlich uns. Und die Kindsmörderin Medea in „Das goldene Vlies“ bleibt auch als Erwachsene von dem Kind umgeben, das sie mal war. „Ich mag es, wenn sich zwei Gegenüber aneinander abarbeiten“, sagt Nerlich. „Wenn das eigene Selbstkonzept durcheinandergebracht wird. Wenn Konzepte aufgelöst werden.“

„Verbrechen und Strafe“ zu inszenieren, war nicht seine Idee, sondern die von Tobias Wellemeyer – aber es traf den richtigen. Nerlich war selbst mehrfach in Russland. Seine Vorfahren kamen aus Ossetien, seine Großmutter wusste, wie man am Zarenhof Orangen filetierte.

Wenn Alexander Nerlich jetzt „Verbrechen und Strafe“ inszeniert, dann kann man davon ausgehen, dass auch der Doppelmörder Raskolnikow nicht nur böse sein wird. Alexander Nerlich wird das Werk mit den unzähligen Nebenschauplätzen mit nur sieben Schauspielern, darunter Nina Gummich und Moritz von Treuenfeld, auf die Bühne bringen. Zum Vergleich: Frank Castorf, der es 2005 inszenierte, brauchte doppelt so viele. „Wir wissen, dass das eine Überforderung darstellt“, sagt Alexander Nerlich, und macht auch klar, dass die Überforderung für ihn kein Problem ist, sondern Programm. „Wenn wir uns schon überheben, dann richtig.“ Er mag es, wenn alle ständig in Bewegung sind, die Spieler rennen müssen, wenn – siehe oben – die Figuren auch doppelt belichtet, sprich doppelt besetzt sind.

Eddie Irle wird Raskolnikow sein, jener arme Schlucker und elitäre Feingeist, der glaubt, aus moralischer Überlegenheit heraus andere Menschen auslöschen zu können. Wer genau dieser Raskolnikow für Alexander Nerlich ist, wird sich heute Abend zeigen. Kein Ideologe jedenfalls, sagt Alexander Nerlich, auch wenn Raskolnikow so tut. Nein, für ihn ist er eher einer, der aus dem Fenster springt, um sich zu vergewissern, dass er lebt.

Lena Schneider

Die heutige Premiere ist ausverkauft. Nächste Vorstellungen: 10. und 11. Februar

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