zum Hauptinhalt
Die Hall of Names in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem.

© Jason Reed/Reuters

Erfundene Familiengeschichten: Warum inszenieren sich Menschen als Nachfahren von NS-Opfern?

Immer wieder geben sich Menschen fälschlicherweise als Nachfahren von Verfolgten der Nationalsozialisten aus. Was verbindet diese Geschichten? Ein Gastbeitrag.

Johannes Spohr lebt als freier Historiker in Berlin. Er promovierte an der Universität Hamburg zur Ukraine in der Zeit des Rückzugs der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Clemens Böckmann lebt und arbeitet als Autor, Veranstalter und Herausgeber in Leipzig. Gemeinsam haben Sie das Buch „Phantastische Gesellschaft. Gespräche über falsche und imaginierte Familiengeschichten zur NS-Verfolgung" veröffentlicht, das im Neofelis Verlag erschienen ist. Am Donnerstag, 12. Mai, ab 20 Uhr präsentieren sie es im K-Fetisch in der Wildenbruchstraße 86 in Neukölln.

Wenn Wolfgang Seibert von seinen jüdischen Großeltern berichtete, bezeichnete er sie als gleichsam widerständisch wie auch verfolgt. Sein Großvater sei in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT gewesen, habe das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz und den Todesmarsch überlebt. Nichts davon war wahr – und doch hörten viele ihm über Jahre bereitwillig zu und verfestigten damit auch seine Narrative – so auch wir. Was aber steckt abseits eindeutiger individueller Verfehlungen hinter solchen Geschichten?

In den letzten Jahren ist das Gedenken an Nationalsozialismus und Holocaust einmal mehr Gegenstand heftiger Kontroversen geworden. Die Forderung, besonders verschiedene Formen von Kolonialverbrechen in der Gedenkkultur präsenter zu machen, vermischt sich teils implizit mit der Vorannahme, es sei bezüglich des Nationalsozialismus eine gesamtgesellschaftliche „gelungene Aufarbeitung“ vollzogen worden, an die es anzuknüpfen gelte. Dies gilt insbesondere für die Behauptung eines „Katechismus“ der Deutschen, von dem der australische Historiker Dirk A. Moses sprach.

Einer solchen Annahme steht vieles entgegen. Dazu zählt ein Phänomen, das eher unregelmäßig statt geballt auftritt, jedoch tief in die Gegenwart des „Erinnerungsweltmeisters“ Deutschland blicken lässt: Menschen, die sich fälschlicherweise als – meist jüdische – Verfolgte des Nationalsozialismus oder deren Nachfahren ausgeben und damit in der Öffentlichkeit auftreten. Aufmerksamkeit haben in den vergangenen Jahren etwa die Fälle Marie Sophie Hingst oder eben Wolfgang Seibert erzeugt, der in Pinneberg einige Jahre als Vorsitzender der dortigen Jüdischen Gemeinde amtierte.

Kontinuität ihnen entgegengebrachter Ressentiments

Falsche und imaginierte Familiengeschichten im Zusammenhang mit der NS-Verfolgung können durchaus als Begleiterscheinung einer erfolgreichen Bildungsarbeit interpretiert werden: Man möchte zu den Verfolgten gehören statt zu den Täter*innen. Letztlich stehen sie jedoch vor allem für eine teils fehlgeleitete, teils schlichtweg ausbleibende Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe. Als Teil einer opferidentifizierten Erinnerungskultur folgen sie nicht den Bedürfnissen der ehemals Verfolgten, sondern vor allem denen der Täter*innen und ihrer Nachfahren. Abseits temporärer Skandalisierung bietet dieses Phänomen somit Anlass, das sich darin kristallisierende Täter-Opfer-Verhältnis in Deutschland nach 1945 zu reflektieren.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Deutsche Opfernarrationen lassen sich bis ins Bismarck’sche und Wilhelminische Kaiserreich zurückverfolgen, haben sich jedoch nach 1945 besonders ausdifferenziert. Die unterschiedlichen Narrative zum „Dritten Reich“ in seinen Folgestaaten standen einer flächendeckenden juristischen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit dem Geschehenen sowie den dazugehörigen Täter*innen, Mitläufer*innen, Zuschauer*innen, Nutznießer*innen und Verfolgten von Beginn an entgegen.

In den Nachkriegsjahrzehnten waren NS-Täter – besonders in der Bundesrepublik – allzu oft gesellschaftlich geachtet, verfügten über ein gesichertes Auskommen und brauchten sich nicht zu sorgen, sie könnten für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden. Gegen die juristische Schonung der Täter*innen richtete sich kaum Protest oder er kam von den zuvor Verfolgten selbst, die vielerorts Interessensverbände gründeten. Die Geschichte der Kämpfe um Anerkennung und Erinnerung der Verfolgten und Überlebenden in den Folgestaaten des Nationalsozialismus ist geprägt von der Kontinuität ihnen entgegengebrachter Ressentiments.

Gefragt sind „gute“ versöhnliche Überlebende

In Anbetracht dieser Tatsachen erscheint die Sehnsucht, in Deutschland die Sprechposition von NS-Opfern einnehmen zu wollen, besonders erklärungsbedürftig. Sie hat mehrere Grundlagen, von denen eine näher eingeführt werden soll: In den 1980er Jahren entwickelte sich in der Bundesrepublik zunächst in der im Entstehen begriffenen Gedenkstättenarbeit, in Geschichtswerkstätten und im Schulunterricht ein Fokus auf die über lange Zeit wenig beachteten Überlebenden der NS-Verfolgung, die nun zu Zeitzeug*innen wurden.

War es nach dem Krieg hauptsächliche die Rolle der Überlebenden, die ihnen widerfahrenen Taten zu bezeugen und bei der strafrechtlichen Verfolgung von Tätern behilflich zu sein, wurden sie zunehmend zu Zeug*innen des ansonsten vermeintlich abstrakten Gesamtkomplex des Nationalsozialismus. Aus dem juristischen Kontext gelöst, sollten sie allgemein verständliche, leicht zugängliche Aussagen über die Zeitgeschichte treffen und verbürgen. Die darin verankerte Hoffnung, einem (sprachlich) nicht fassbaren Wesen der NS-Vernichtung auf die Spur zu kommen, wird in der Begegnung mit Zeitzeug*innen einseitig aufgelöst.

Das Buch "Phantastische Gesellschaft", herausgegeben von Clemens Böckmann und Johannes Spohr.

© Neofelis Verlag

Heute finden Traumatisierungen und Ohnmacht zunehmend darin, auch einer medialen Ökonomisierung entsprechend, immer weniger Platz. Gefragt sind „gute“ versöhnliche Überlebende, deren Narrativ ein „Happy End“ enthielt, denen es (vermeintlich) gut ging und die keine Rache einfordern. Weniger gefragt sind Geschichten, die von einem zerstörten Leben erzählten, vor allem: die nicht vergeben wollten. Auch Erzählungen von einem gewaltsamen Widerstand und Gegenwehr der Zeitzeug*innen entsprechen nicht den Erwartungen der deutschen Zuhörerschaft. Dem Prozess der Identifikation geht voraus, die Perspektive auf die NS-Verfolgung extrem zu verengen: Opfer des Nationalsozialismus, das müssen Jüdinnen und Juden sein, die man sich typischerweise als deutsche Jüdinnen und Juden vorstellt, von denen ebenfalls ein bestimmtes Bild vorherrscht. Von diesen wird erwartet, in Auschwitz gewesen zu sein und dies überlebt zu haben.

Der historischen Verantwortung entziehen

Diese vermeintliche Neujustierung des „deutsch-jüdischen Verhältnisses“ im postnazistischen Deutschland folgt vor allem nichtjüdischen Befindlichkeiten. Dies korreliert damit, dass seit den 1990er Jahren der vorherrschenden bundesdeutschen Gedenkkultur zum Nationalsozialismus vermehrt die Funktion zuteilwird, zur Legitimierung innen- und außenpolitischer Schritte beizutragen. Dabei wird Jüdinnen und Juden nach wie vor häufig die Rolle von Kronzeug*innen zugeschrieben: Sie sollen den Nachkommen der Täter*innen, Mittäter*innen, Mitläufer*innen und Zuschauer*innen bescheinigen, dass die nationalsozialistischen Taten Vergangenheit sind, Schuld gesühnt und Wiedergutwerdung erreicht ist. Dieses Verlangen nach Versöhnung und Vergebung an Bedürfnissen der Opfer vorbei folgt zutiefst christlichen Motiven. Der Einhegung des anerkannten Opfers folgt die (Über)-Identifikation mit ihm.

Der phantastischen Gesellschaft ist es gelungen, eine Erinnerung zu etablieren, in deren Zentrum vermeintlich die Opfer stehen. Gleichzeitig ist das gesellschaftliche Wissen über die Funktionsweisen von Antisemitismus, Romafeindlichkeit und anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit marginal sowie über konkrete Täterschaft gering. Die Selbstidentifikation mit den Opfern befreit damit vorgeblich von der Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Taten.

Das Bedürfnis, sich mit Opfern zu identifizieren, stellten Personen wie Binjamin Wilkomirski, Wolfgang Seibert oder Marie Sophie Hingst in gesteigerter Form dar. Durch ihr Handeln missbrauchten sie nicht nur massiv Offenheit und Vertrauen, sondern sie entsprachen gleichzeitig dem Bedürfnis der breiten Gesellschaft, sich der historischen Verantwortung zu entziehen. Im Fokus ihrer Geschichten standen Identifikationsangebote für die Zuhörerschaft der phantastischen Gesellschaft.

Bedürfnisse der Täternachfahren

Es wurde die Nähe zu einer Sprechposition gesucht, die der eigene biografische Hintergrund mitunter verunmöglichte. Diese Zuspitzung kann sowohl als Folge identitätspolitischer Auseinandersetzungen verstanden werden, als auch als Sinnbild des grundsätzlich scheiternden Strebens nach authentischer Subjektivität. Es ist in diesem Zusammenhang attraktiver geworden, bestimmte Sprechpositionen einzunehmen, mit denen auch verbunden sein kann, Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein.

Vergangen sind heute die Taten, nicht jedoch ihre Wirkmächtigkeit. Bis in die Gegenwart bleibt die deutsche Gesellschaft durch die NS-„Vergangenheit“ geprägt. Angesichts nicht wiedergutzumachender historischer Ereignisse kann das Bedürfnis, sich selbst zur Gruppe der Opfer zu zählen, auch als Ausdruck von Ohnmacht verstanden werden. Die von den nichtjüdischen Deutschen gewünschte Vergebung können ihr die Opfer der NS-Verbrechen nicht erteilen. Anstatt diese Spannung durch eine Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Taten aufzulösen, kompensiert die phantastische Gesellschaft ihre Widersprüchlichkeit durch die Universalisierung von Leid und die Selbstverortung als Opfer.

Der Schluss liegt nahe, dass es sich bei der vielfach postulierten ‚Opferzentrik‘ tatsächlich um eine komplexe Variante der ‚Täterzentrik‘ bzw. ‚Selbstzentrik‘ der Täternachfahren handelt. Das bedeutet, dass die Art und Weise, wie sich mit dem Opfern beschäftigt wird, vor allem an den Bedürfnissen der Täternachfahren orientiert, anstatt sich umfassend auf die ambivalenten Erfahrungen Überlebender, Opfer und Nachfahren wie auch ihre Forderungen einzulassen.

Johannes Spohr, Clemens Böckmann

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false