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Von Dirk Becker: Wo Orangenbäume Tabak schnupfen

Auf historischer Stadtrundfahrt mit dem Buch „Potsdam. Eine Lese-Verführung“

Die Anreise von Berlin, obwohl nur vier Postmeilen lang, war schwerlich. Ein Unternehmen, „zu dessen Ausführung man sich im Voraus mit Geduld waffnen mußte“, wie Johanna Schopenhauer über ihre Reise nach Potsdam im Jahr 1787 schreibt. „Im knieetiefen Sande, beinahe einen ganzen Tag lang durch einen traurigen Fichtenwald sich hinschleppen lassen zu müssen, um einen so kurzen Weg zurückzulegen, war in der That keine Kleinigkeit.“ Und als sie, die Schriftstellerin und Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, endlich Potsdam erreicht hatte, entschädigte der Anblick der Stadt sie wenig für die überstandene Mühseligkeit. „Uniformen rechts, links, wohin man sah, überall nichts als Uniformen, nirgends echt bürgerliche Wohlhabenheit, frohsinniger, sich selbst lohnender Gewerbefleiß. Mir war nicht wohl dabei, und ich sehnte mich bald wieder hinaus.“

Wer heute nach Potsdam reist, muss nicht die Mühsal einer Johanna Schopenhauer erdulden. Doch wer per Zug oder S-Bahn zum ersten Mal diese Stadt erreicht und die haarsträubende Baukastenarchitektur am Hauptbahnhof erblicken muss, dem wird es vielleicht ähnlich ergehen wie ihr: „Mir war nicht wohl dabei, und ich sehnte mich bald wieder hinaus“.

Johanna Schopenhauers ernüchternde Reise nach Potsdam ist nachzuerleben in dem Buch „Potsdam. Eine Lese-Verführung“, das Juliane Beckmann im Fischer-Verlag herausgegeben hat und das ab kommender Woche in den Buchläden ausliegen soll. Es ist ein historisches Potsdam-Entdecken, das sich auf über 270 Seiten anhand von Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und Romanauszügen anbietet. Neben Johanna Schopenhauer kommen hier Voltaire und Friedrich Wilhelm I., Dieudonné Thiébault und Friedrich de la Motte Fouqué, Theodor Fontane und Heinrich Kleist, Friedrich Nietzsche und Friedrich der Große selbst zu Wort. Und auch Heinrich Heine.

„Trübe Tage“ ist der kurze, gerade einmal zwei Seiten umfassende Bericht überschrieben. Und wie der Titel schon erahnen lässt, es ist nicht eitel Sonnenschein, was Heine in Potsdam erlebt. „Ich spazierte dort mutterseelallein, in dem verschollenen Sanssouci, unter den Orangenbäumen der großen Rampe ... Mein Gott, wie unerquicklich poesielos sind diese Orangenbäume! Sie sehen aus wie verkleidete Eichbüsche, und dabei hat jeder Baum seine Nummer, wie ein Mitarbeiter am Brockhausischen ’Konerversationsblatte’, und diese nummerierte Natur hat etwas so pfiffig Langweiliges, so korporal-stöckig Gezwungenes! Es wollte mich immer bedünken, als schnupften sie Tabak, diese Orangenbäume, wie ihr seliger Herr, der Alte Fritz ...“

Den alten, so begnadeten Spötter Heine plagte während seiner „trüben Tage“ in Potsdam furchtbares Zahnweh, die Panik vor dem bevorstehenden Besuch beim Zahnarzt und das unvermeidliche „Zahn ausreißen lassen“, das für ihn einer Exekution gleich kommt. „Welche schauerliche, grauenhafte Operation! Sich dabei auf einen Stuhl setzen und ganz stillhalten und ruhig den schrecklichen Ruck erwarten! Mein Haar sträubt sich, wenn ich nur daran denke.“ Wen solche Gedanken plagen, den heitert auch kaum ein Spaziergang vor Sanssouci auf.

Aber keine Angst, „Potsdam. Eine Lese-Verführung“ ist keine miesepeteriges Potsdam-Buch. Es dauert nur wenige Zeilen, schon überschlägt sich Frau Schopenhauer in Schwärmereien. „Schloß Sanssouci machte in seiner grandiosen Einfachheit einen Eindruck auf mich, den ich nicht versuchen will durch Worte wieder zu geben.“ Leichtfüßig schweifte sie da durch die umliegenden Gärten.

Mühselige Anreise durch knietiefen Sand oder Zahnschmerzen, es sind diese Anmerkungen und Bissigkeiten, die „Potsdam. Eine Lese-Verführung“ so reizvoll machen. Die ganz persönlichen Blicke auf Potsdam, die so unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnisse in dieser Stadt machen das Buch zu einer lesenden Entdeckungsreise, sowohl für Potsdambesucher als auch ihre langjährigen Bewohner. Und als „Lese-Verführung“ weckt dieses kleine Buch auf fast spielerische Weise die Lust, Bücher von Autoren wie Heine, Nietzsche, Heiner Müller, Jochen Klepper oder Fontane wieder zur Hand zu nehmen. Gleichzeitig können diese gesammelten Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Gedichte und Romanauszüge als Ergänzung gelesen werden zum kürzlich erschienenen „Potsdam, wo es am schönsten ist – 66 Lieblingsplätze“, in dem mehr oder weniger bekannte Potsdamer ihre Lieblingsorte in und um diese Stadt verraten haben (PNN vom 27. März). Während das eine Buch klar als eine Liebeserklärung an Potsdam zu lesen ist, strotzt der vielseitige, historische Rückblick nur so vor garstigen Herrlichkeiten.

„Der Monarch pflegte zu Fuß zu gehen, gekleidet in einen schäbigen blauen Tuchrock mit Kupferknöpfen, der ihm halb bis zu den Schenkeln reichte; und wenn er sich einen neuen Rock kaufte, so ließ er seine alten Knöpfe wiederverwenden. In dieser Aufmachung und mit einem dicken Feldwebelstock bewaffnet, besichtigte er jeden Tag sein Riesenregiment. Dieses Regiment war seine Liebhaberei ... Man kann sich vorstellen, wie dieser Vandale sich darüber wunderte und ärgerte, dass er einen geistvollen, liebenswürdigen und höflichen Sohn hatte, der Gefallen erregen wollte und danach trachtete, sich zu bilden, der musizierte und Verse machte“, schrieb Voltaire über Friedrich Wilhelm I. und dessen Sohn Friedrich. Das hätte auch Heinrich Heine, trotz Zahnweh, gefallen!

Juliane Beckmann (Hg.): Potsdam. Eine Lese-Verführung, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 272 Seiten, 8 Euro; Steffen Reiche (Hg.): Potsdam, wo es am schönsten ist – 66 Lieblingsplätze, Siebenhaar Verlag, Berlin 2010, 224 Seiten, 12,80 Euro

Dirk Becker

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