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Beziehungsreiche Aufführung. Beim „Vocalise“-Festival überzeugte am Samstag eine vorzüglich harmonisierende Sangesgemeinschaft in der Erlöserkirche .

© Andreas Klaer

„Vocalise“-Festival in Potsdam: Glaube, Liebe, Hoffnung

Michael Tippetts Oratorium „A Child of Our Time“ beim „Vocalise“-Festival in der Erlöserkirche begeistert aufgenommen.

Am Anfang steht eine Metapher: „Die Welt wendet sich zu ihrer dunklen Seite. Es ist Winter.“ Die natürlich keine meteorologische Erscheinung dieser düsteren, nebelverhangenen Tage meint, sondern vielmehr den kritikwürdigen Zustand der Gesellschaft beschreibt. Was übrigens schon Hamlet zu der auf den Punkt gebrachten Erkenntnis führte, dass die Welt aus den Fugen sei. Auch Schubert suchte in seiner „Winterreise“ über die Liebestragödie hinaus seine restriktiven Zeitläufe zu fassen. Für den englischen Komponisten Michael Tippett (1905-1998) waren es die 20er- und 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts mit ihrer Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und damit verbundener Hoffnungslosigkeit, die ihn sozial wie politisch prägten.

Er, der als 18-Jähriger am Royal College of Music in London fünf Jahre lang Klavier und Komposition studiert hatte, schloss sich keiner avantgardistischen Richtung an und komponierte in keinem elfenbeinernen Turm, sondern suchte den Kontakt zum Publikum. Auf Zeiterscheinungen reagierte er sensibel. So mit seinem Oratorium „A Child of Our Time“, das er zwischen 1939 und 1941 schrieb. Als er sein „Kind unserer Zeit“ abschloss, hatte der Zweite Weltkrieg begonnen, dessen Furchtbarkeit die von ihm postulierte „Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber den Menschen“ nur noch bestätigte.

Als er vom Schicksal des 17-jährigen Herschel Grynszpan erfuhr, der am 7. November 1938 in Paris einen deutschen Diplomaten erschoss, was den Nazis als Vorwand für ihre zwei Tage später erfolgte Reichspogromnacht diente, hatte Michael Tippett sein Thema gefunden. Für das Libretto wollte er T. S. Eliot gewinnen, der jedoch der Meinung war, der Komponist könne es selber viel besser schreiben. Gesagt, getan und tonal in traditionellen Formen komponiert.

Die textlich-musikalische Schilderung jeglicher historischer Geschehnisse liegt ihm fern, stattdessen interessiert ihn das Allgemeine. Das „Kind unserer Zeit“ bleibt anonym, sein Schicksal eine universale Erfahrung. Wenn von aufstachelndem Hass gegen Fremde, Verfolgung von Flüchtlingen oder Ausgrenzung berichtet wird, sind die Bezüge zu aktuellen Ereignissen ganz nah. Was auch an der beeindruckenden Aufführung des Oratoriums im Rahmen des „Vocalise“-Festivals am Samstag in der Erlöserkirche liegt. Die vorzüglich harmonisierende Sangesgemeinschaft aus Junger Kantorei Hermannswerder (dem bestens präparierten Oberstufenchor des dortigen musikgeprägten Evangelischen Gymnasiums) und Camerata Vocale Potsdam (gymnasialer Projektchor mit vielen Ehemaligen, Eltern und Pädagogen) wird dabei vom Neuen Kammerorchester Potsdam begleitet. Unter der straffen Leitung von Matthias Salge ist von der düsteren, das Frostige schier frösteln machenden Einleitung bis zur hoffnungsfroh stimmenden Frühlingsmetapher ein überaus ausdrucksintensiver Bogen geschlagen. Gesungen wird in Englisch, aber das Textheft hält die deutsche Übersetzung zum Lesen bereit, wobei das Kirchenschiff entsprechend erhellt bleibt.

Der Dirigent fordert von allen Beteiligten ein duftiges, aufgefächertes und sehr transparentes Klangbild, das die Spannbreite der Gefühle dieser berührenden Musik zwischen aufgeregt, anklagend, fragend, drängend, verzweiflungsvoll und hoffnungsfroh auszudrücken versteht. Vor jedem der drei Teile gibt es eine vorgelesene Kurzfassung des kommenden Geschehens (Lea Kolesnyk), gefolgt von einem emotional entsprechenden Chor-Prolog, der das Geschehen kommentiert. Später ist der Chor dann wandlungsreicher Vertreter von Selbstgerechten, Verfolgten und Verfolgern. In wechselnden Rollen (Junge, Mutter, Tante, Onkel) finden sich auch die Solisten wieder.

Statt des Evangelisten hat Tippett einen Narrator eingeführt, der Allgemeingültiges zum Gang des Geschehens singt. Mit seinem rabenschwarzen, prägnant deklamierenden und sonoren Bass meistert Simon Robinson diese Aufgabe. Nicht minder glutvoll und ausdrucksstark, voller Tiefe und Textverständlichkeit präsentiert sich die Altistin Ulrike Andersen. Ein wenig zu zurückhaltend, aber dennoch mit leicht heldischem Aplomb tritt Tenor Jan Kobow in Erscheinung. Die Sopranistin Christina Bischoff ist mit einer Indisposition angesagt, zieht sich aber dennoch mehr als achtbar aus den katarrhalischen Misslichkeiten. Allesamt haben sie die Abfolgen von Soli, Rezitativen und Arien (mit oder ohne chorische Assistenz) sehr engagiert gemeistert. Und wo bleiben eigentlich die ein Oratorium gliedernden Choräle? Michael Tippett verzichtet auf sie, komponiert dafür insgesamt fünf Spirituals, die dem Ganzen fröhlichen Swing und schwebende Leichtigkeit verleihen.

Ist so dem metaphorischen Winter zu begegnen? Vielleicht im Hoffen auf Erneuerung und der Mahnung zu Toleranz, Humanität und Gerechtigkeit? Bevor das „Kind unserer Zeit“ den prasselnden Applaus genießen kann, steht am Beginn seines Weges das streng geformte, strukturklar musizierte „Ricercar a 6“ aus Johann Sebastian Bachs „Musikalischem Opfer“.

Peter Buske

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