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Christine Angot und Charly Clovis in „Une famille“.

© Le Bureau Films, Rectangle Productions, France 2 Cinéma

„Une Famille“ auf der Berlinale: Das Ringen um Wörter

Die Schriftstellerin Christine Angot wird zur Filmemacherin, um sexuelle Gewalt zu thematisieren. „Une Famille“ läuft in der Sektion Encounters.

Christine Angot steht am Fenster und weint, aber man hört sie nicht, die Szene ist stumm. Auch als die französische Schriftstellerin vor dem Haus steht, in dem die Frau ihres Vaters und Vergewaltigers lebt, fürchtet sie zunächst, ihre eigene Stimme könne versagen. Kurz erwägt sie, die Begleitung, die zu ihrer Unterstützung mitgekommen ist, unter einem falschen Vorwand vorzuschicken, bevor sie sich die Worte, die sie gleich sagen wird, zurechtlegt.

Sie klingelt, dann geht alles überfallartig schnell. Nur einen Moment später steht Angot mit der Kamerafrau Caroline Champetier in der vornehmen Wohnung der Frau und erzwingt ein Gespräch über deren Umgang mit dem Verbrechen. Das diese zwar nicht leugnet, aber neutralisierend eine „sexuelle Beziehung“ nennt.

„Une famille“ ist ein permanentes Ringen um Worte, ein Aushandeln von Begriffen. Auf das Mitleid, das die Frau des Vaters ihr ausspricht, scheißt Christine Angot. Mitleid sei ein Instrument der Überlegenheit und der Verachtung. Etwas ganz anderes ist es zu sagen: „Es tut mir leid, was dir passiert ist“. Ihre Tochter Léonore war die Einzige, die fähig war, das Naheliegende auszusprechen, wie Angot in einem Gespräch am Ende des Films betont.

13 Jahre war sie alt, als sie ihren Vater zum ersten Mal traf, in den folgenden Jahren missbrauchte er sie wiederholt, vorwiegend an den Wochenenden und in den Ferien. Unerbittlich verlangt sie im Film die vollständige Anerkennung ihres Traumas. Sie konfrontiert ihre leibliche Mutter, die mehr mit dem Schmerz über den damals für sie unverständlichen Bruch in der Beziehung zur Tochter beschäftigt ist, und den ehemaligen Lebensgefährten, Léonores Vater, auch er Opfer eines sexuellen Missbrauchs.

Als sich die Vergewaltigung im eigenen Haus wiederholte, war er zu sehr im Gefühl der eigenen Scham gefangen, um einzugreifen. Dem eigenen Vater kann Angot nicht mehr entgegentreten. Durch eine Alzheimer-Erkrankung entzog er sich in seinen letzten Lebensjahren der Konfrontation, seit einigen Jahren schon ist er tot.

Blicke auf den Körper der Frau

In die Gesprächsszenen eingewoben sind Home Movies, Angot ist auf den Videoaufnahmen als junge Mutter mit Léonore zu sehen. Anfangs vermutet man den Täter hinter der Kamera, die mitunter tastenden Blicke auf den Körper der Frau und der kleinen Tochter lösen unmittelbar Unbehagen aus. Es ist eine seltsam schräge Fährte, die Angot mit diesen Bildern auslegt, auch anderes wirkt angerissen und unbearbeitet.

„Une famille“ verbleibt bei allem Insistieren auf die Aussprache überwiegend in der Suchbewegung. Das Rohe, Unartikulierte überrascht insofern, als die Schriftstellerin und Drehbuchautorin (sie hat mehrfach mit Claire Denis zusammengearbeitet, etwa an „Mit Liebe und Entschlossenheit“) die ihr zugefügte Gewalt nicht etwa zum ersten Mal zur Sprache bringt.

Seit dem Erscheinen von „L’inceste“ im Jahr 1999 schreibt und spricht Angot über den sexuellen Missbrauch, als eine Figur der literarischen Öffentlichkeit ist sie in Frankreich Gegenstand von Debatten und wird in Talkshows eingeladen. Ein kurzer Zusammenschnitt dieser Auftritte offenbart den schwer fassbaren Chauvinismus und die Empathielosigkeit, mit der ihr die (meist männlichen) Gäste begegnen. Es werden Witze gerissen, man nimmt sie nicht ernst. Einmal reicht es Angot und sie verlässt die Sendung.

In „Une famille“ aber ist Angot weniger Schriftstellerin als Amateurfilmerin, sie verlässt ihr Metier; der Film hat nichts Literarisches, das Voiceover ist knapp. Es gibt sicherlich konzeptuell überzeugendere Ansätze, Erfahrungen von sexueller Gewalt eine filmische Form zu geben. Aber an reflexiven Verschiebungen und distanzierenden Reenactments – wie sie etwa Martha Coolidge in ihrem Dokudrama „Not a Pretty Picture“ (1976) vornahm – hat Angot kein Interesse. Ihr geht es gerade darum, dem inneren Aufruhr Raum zu geben.

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