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Sänger Filip Kirkorov 2023 auf einem Konzert in Moskau.

© imago/Russian Look

Ukrainisches Kriegstagebuch (197): Notizen über russische Literatur und eine bankrotte Kultur

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

18.3.24

Ich muss sagen, die App der Deutschen Bahn ist wirklich praktisch! Es ist eine echte Herausforderung, bei dem zunehmenden Chaos mit Streiks und Verspätungen den Überblick zu behalten, aber meistens gelingt es – dank der App. Auch heute habe ich schon eine Stunde vor Abfahrt die Meldung auf das Handy bekommen, dass mein Zug gestrichen wurde. Hätte ich das erst am Bahnsteig erfahren, wäre das ärgerlich gewesen. Aber so konnte ich zu Hause in aller Ruhe meinen Kollegen in Bautzen Bescheid geben, dass ich später komme.

Nun haben sie genug Zeit, die Jugendlichen anzurufen und zu versuchen, unser Treffen zu verschieben, festzustellen, dass sie zu einem anderen Zeitpunkt nicht können, mich darüber zu informieren und dann von mir neue Terminvorschläge bekommen. Das Handy in meiner Hosentasche wird langsam heiß und wärmt mir den Oberschenkel, während ich in den nächsten Zug steige und gemütlich mit den anderen, deren Fahrt ausgefallen ist, im Gang stehe. 

Ich krame mein MacBook aus dem Rucksack. Vielleicht schaffe ich es heute bis zum Finale der neuen Guy-Ritchie-Serie, vielleicht aber auch nicht – das W-Lan streikt. Dann habe ich endlich Zeit für etwas, das ich viel zu selten mache: meine Notizen durchsehen. 

Wenn die Zeit drängt, schreibe ich oft nur einen Satz, ein paar Worte und hoffe, irgendwann auf etwas zurückkommen zu können, das mein Interesse geweckt hat. Manchmal ist es ein Link zu einem Artikel oder einem Facebook-Beitrag, den ich später noch lesen möchte, manchmal nur ein Screenshot – eine moderne Version des Lesezeichens. Die Tage sind so vollgepackt, dass man am Mittwoch oft schon vergessen hat, was am Montag passiert ist – geschweige denn, was noch weiter zurücklag.

Hier sind sie also: 

  • ein Foto aus dem Frühjahr 2022 aus dem Facebook-Account der Mutter eines Freundes. In ihrer Wohnung in Charkiw war ich schon als Kind, deshalb erkenne ich das Zimmer auf dem Foto sofort wieder. Zu sehen sind vier Personen, zwei von ihnen liegen auf dem Sofa, die anderen beiden auf einer Decke, die auf dem Boden liegt. Die Unterschrift ist kurz: „Die ersten Kriegstage. Nachbarn sind zu mir gezogen. Zusammen haben wir weniger Angst.“
  • ein weiterer Screenshot, diesmal von einer russischen Nachrichtenseite. Zweimal in diesem Jahr war der exzentrische Popsänger Filip Kirkorov, der ein bisschen wie Liberace aussieht, im Donbass. Dort sang er für die russischen Streitkräfte und verteilte Puppen von sich selbst an die Kinder. Anschließend erschien er in einem Louis-Vuitton-Tarnanzug auf einer Party in Moskau.
  • ein Link zum Trailer einer neuen Dokumentation über das legendäre ukrainische Restaurant Veselka in Manhattan, das seit 1954 besteht. 2019 erzählten mir meine Freunde in New York, dass das Veselka kurz vor der Schließung stehen würde. In den letzten Jahren hat es sich jedoch neu erfunden und ist zu einem Treffpunkt für die ukrainische Community und alle Freunde der Ukraine in New York geworden. Der Trailer zeigt eine Warteschlange vor dem Eingang des Restaurants und Bürgermeister Eric Adams an einem der Tische des Veselka, während der Text des Films von keinem Geringeren als David Duchovny eingesprochen wird.
  • Vor zwei Monaten stieß ich in der Zeitschrift „Tyzhden“ auf einen Text der ukrainischen Autorin Olena Pavlova, in dem sie davon erzählt, wie sie die russische Literatur im Bücherschrank ihrer Eltern aussortierte. So etwas würde man in einer deutschen Zeitung wohl kaum lesen, und ich bin sicher, die hiesigen Liebhaber russischer Literatur würden sich darüber ärgern. Olena bezeichnet Puschkin, den ihre Mutter einst so verehrte, heute als „einigendes Symbol für unseren Feind“. 

Um das zu verstehen, genügt ein Blick auf die Bilder aus dem besetzten Kherson mit den großen Plakatwänden, die Puschkin-Zitate zeigen, oder auf den Zaun um das zerbombte Theater in Mariupol, geschmückt mit den Porträts von Puschkin und Tolstoi. Man denke auch an die systematische Vernichtung ukrainischer Bücher in Bibliotheken und Schulen der besetzten Gebiete oder an die Berichte der Bewohner des Dorfes Jahydne, die wochenlang als Geiseln im Keller der örtlichen Schule festgehalten wurden und gezwungen waren, ukrainische Buchseiten aus der Schulbibliothek als Klopapier zu verwenden.

Spätestens seit dem Beginn des Vernichtungskrieges gegen die Ukraine hat die russische Literatur ihren Wert und ihre Anziehungskraft verloren. Es ist an der Zeit, anzuerkennen: Die Kultur des Aggressor-Landes ist bankrott.

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