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Der Rockabilly-Musiker Oleksandr Remez, jetzt ukrainischer Soldat.

© Marina Ermolaeva

Ukrainisches Kriegstagebuch (185): War is not over

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

31.12.23

Obwohl John Lennon seit 43 Jahren nicht mehr unter uns weilt, hat er dennoch ein offizielles, regelmäßig aktualisiertes Instagram-Profil. Vor Weihnachten werden dort häufig Fragmente seines Songs ,Happy Christmas / War Is Over’ geteilt. Diese Lennon-Hymne ist gerade auch auf dem Profil der ukrainischen Stiftung United24 zu hören, wo eine neu aufgenommene Version davon Teil eines Christmas Evergreens-Medleys ist. Wäre da nicht das Video, könnte man es als eine von zahllosen netten Interpretationen der Klassiker wahrnehmen, die jedes Jahr im Dezember oft zu hören sind.

Im Video sind weder festlich geschmückte Tannenbäume zu sehen, noch Schneewehen oder Schlitten. Bewusst wird auf den üblichen zuckersüßen Weihnachtskitsch verzichtet. Die düstere, fast apokalyptische Farbpalette, in der die üblichen Weiß- und Rottöne vollständig fehlen, steht im klaren Gegensatz zu den traditionellen Christmas Videos. 

Musiker in Militäruniform

Gedreht wurde im Donbass, wo unter anderem ein zerbombter Bahnhof und ein zerstörtes Kulturhaus als Kulisse dienten. Alle Musiker*innen tragen im Bild Militäruniform. Unter ihnen erkenne ich sofort Oleksandr Remez. 

Jahrelang verfolgte ich als begeisterter Fan seine Band Ruki’V Bruki. Die Jungs waren eine feste Größe der Kiewer Rockabilly-Szene und wirkten mit ihren Frisuren und Outfits, als wären sie direkt aus dem Jahr 1955 entsprungen. Auch ihr Repertoire war eine Hommage an die frühe Rock ‘n Roll-Ära. Beim Hören von Remez’ Stimme hätte man zunächst an Eddie Cochran oder Gene Vincent denken müssen – bis man feststellte, dass es auf Ukrainisch, nicht auf Englisch gesungen wurde.

Seit 2022 dient Oleksandr im ukrainischen Militär. Er kämpfte an vorderster Front, wurde verletzt und ist nun Teil des Kulturnyj Desant, eines Künstlervereins, der Konzerte für die ukrainischen Soldaten organisiert. Auch die anderen Musiker*innen, die im Weihnachtsvideo von United24 zu sehen sind, gehören dazu. 

Die instrumentale Begleitung beschränkt sich auf Akustikgitarre, Klavier, Percussion und Flöte, das Arrangement klingt einfach und minimalistisch. Die Stimmen der Sänger*innen sind passend zum Anlass emotional und ihr Englisch wirkt beinahe akzentfrei. Beim genauen Zuhören bemerkt man, dass einige Stellen im Liedtext an die aktuelle ukrainische Realität angepasst wurden. 

Raketenangriffe auf Charkiw

Am 18. Dezember wurde auf Lennons Instagram-Account ein Plakat mit dem Slogan „War is over if you want it“ in verschiedenen Sprachen, darunter auch Ukrainisch und russisch, veröffentlicht. Ein Link zum Herunterladen und Ausdrucken des Plakats wurde zur Verfügung gestellt. Allerdings fällt es mir schwer vorzustellen, wie jemand in Russland oder der Ukraine heute mit einem solchen Slogan auf die Straße gehen könnte. 

In Russland würde eine solche Aktion die Demonstranten für viele Jahre direkt ins Gefängnis bringen. In der Ukraine besteht weniger die Sorge, Ärger mit der Polizei wegen eines solchen Plakats zu bekommen, sondern vielmehr, weil die Gesamtlage derzeit äußerst gefährlich ist. Zum Beispiel gab es in den letzten beiden Tagen starke Raketenangriffe auf meine Heimatstadt Charkiw, die als heftigste seit Langem beschrieben werden.

Die Nachrichten zeigen Bilder der Zerstörungen im Stadtzentrum, auf denen ich das Palace Hotel erkenne, wo meine Band RotFront im Oktober 2014 übernachtet hatte. Katya Tasheva und ich haben nach dem Frühstück ein Lied an dem schicken weißen Flügel im Foyer improvisiert, während unsere Kollegen uns dabei fotografierten. Nun hat es der Flügel in die Nachrichten geschafft, alles um ihn herum liegt in Trümmern. Auch ein deutsches Fernsehteam war im Hotel untergebracht und es gab Schwerverletzte.

“War is not over”, singen die ukrainischen Musiker*innen im Video von United24 immer und immer wieder, „even if you want it“. Es ist zwar bitter, aber leiderist dies eine treffende Beschreibung der aktuellen Situation. Obwohl wir uns so gern wünschen würden, das Gegenteil zu hören – der Krieg ist nicht vorbei. 

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