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Demonstration vor der Staatsoper Unter den Linden gegen den Auftritt von Anna Netrebko statt.

© dpa/Annette Riedl

Ukrainisches Kriegstagebuch (169): Ein trojanisches Pferd in der Staatsoper

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

17.9.2023
Dieses Szenario kennen meine DJ-Kollegen nur allzu gut – fast bei jeder Party, bei der du auflegst, gibt es diesen einen Typen, der viel besser weiß, welche Musik der DJ spielen sollte. Seine Musikwünsche teilt er enthusiastisch mit, ganz gleich, ob der DJ daran interessiert ist oder nicht. Diese Woche habe ich wieder einmal diese Erfahrung gemacht.

Da die Musik im Raum sehr laut war, tat ich zuerst so, als ob ich meinen freiwilligen Helfer aus dem Publikum nicht hören würde. Das hinderte diesen grauhaarigen Israeli jedoch nicht daran, hartnäckig seine Mission fortzusetzen. Er tippte Songtitel auf seinem Handy ein und zeigte sie mir. Bei seinem ersten Wunsch willigte ich ein, in der Hoffnung, dass er danach vielleicht Ruhe geben würde. Aber das Gegenteil war der Fall. In der nächsten Stunde ignorierte ich ihn so höflich wie möglich, aber schließlich kam er zu mir und sprach mich in gebrochenem russisch an.

Ich war verwundert, denn es war offensichtlich nicht seine Muttersprache. Wahrscheinlich hatten ihm seine Kumpels, die in der Ecke standen, diesen Satz gerade beigebracht. Ich fragte auf Englisch (da wir uns am Anfang eigentlich auf Englisch verständigt hatten), warum er das tat – ob er glaubte, dass ich aus russland stamme. Die Frage, weshalb er ausgerechnet russisch verwenden wollte, schien ihn zu verwirren. „Just trying to be polite, i guess“, meinte er schließlich.

Spenden für die Separatisten

Es fühlt sich zuweilen an wie der erste Tag mit einer neuen Brille: Von der plötzlichen Klarheit fasziniert, schaut man erstaunt umher und regt sich darüber auf, dass zuvor so viele Dinge nicht so deutlich erkennbar waren. Dabei tauchen zahlreiche Fragen auf.

Natürlich bin ich nicht der Einzige mit der neuen Brille – die absolute Mehrheit der Ukrainer*innen haben sie ebenfalls erhalten, ohne danach gefragt zu haben. Der Preis, den sie dafür bezahlten, ist eindeutig zu hoch und Reklamationen werden nicht angenommen. Man hätte vermuten können, dass die neue Klarheit das Leben einfacher macht, doch leider ist es oft nicht so – vor allem, wenn man in einer Welt lebt, wo die Nachbarn diese Brille nicht besitzen.

Am Freitagabend gab es einen Protest vor der Berliner Staatsoper gegen den Auftritt von Sängerin Anna Netrebko. Leider konnte ich nicht persönlich teilnehmen, aber in den Wochen zuvor habe ich die Petition sowie den offenen Brief unterzeichnet und beide eifrig unter meinen Freund*innen geteilt, sowohl privat per E-Mail als auch öffentlich auf Facebook. Die meisten meiner Freund*innen haben ebenfalls ihre Unterstützung gezeigt, doch es gab auch andere Meinungen zu hören: Lass sie doch singen, schrieb eine Followerin. Man solle die Kunst nicht ausgrenzen.

Obwohl Frau Netrebko und ihr Management in den letzten Monaten mehrmals betont haben, dass die Sängerin völlig unpolitisch sei, werfen einige Fakten aus den letzten 15 Jahren Zweifel daran auf. Um die ganze Welt gingen Bilder von ihr, auf denen sie und der Anführer der ukrainischen Separatisten, Oleg Zarew, strahlend die Flagge von Neurussland hielten. Sie wurden im Dezember 2014 in St. Petersburg aufgenommen, kurz nachdem Netrebko im Live-Fernsehen einen Scheck über 15.000 Euro als Spende für die Donezker Oper an Zarew überreicht hatte.

Zu diesem Zeitpunkt führte Russland bereits seit neun Monaten Krieg in der Ukraine, die Krim war schon annektiert worden und das Passagierflugzeug der Malaysia Airlines war abgeschossen worden. Doch heute wird behauptet, Netrebko hat die Flagge damals einfach nicht erkannt. „Was ist das für ein schönes buntes Tuch?“, muss sie den Tsarew gefragt haben, als die beiden damit für die Fotos posierten.

Außerdem ist die apolitische Sängerin Patin des russischen SOS-Kinderdorfes Tomilino nahe Moskau, in dem 2022 Propagandavideos mit Kindern gedreht wurden, die aus der Ukraine verschleppt wurden. Besondere Sorgen bereitet mir jedoch ein Bild aus dem Jahr 2010, auf dem Netrebko ein T-Shirt mit der Aufschrift „Nach Berlin!“ und ein Sankt-Georgs-Band trägt – beides sind stark aufgeladene militärische Symbole russlands.

14 Jahre später hat Anna Netrebko, das trojanische Pferd der russischen Propaganda, die deutsche Hauptstadt erreicht. Und ihre Vorstellungen in der Staatsoper sind ausverkauft.

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