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Kultur: Tiefschläge

„Marcela“ von Helena Tretíková im Thalia

„Es ist so schwer zu leben“, sagt die Heldin des Dokumentarfilms „Marcela“, der am Dienstagabend in der Reihe „Neues Tschechisches Kino“ im Babelsberger Thalia gezeigt wurde. Sie formuliert diesen Satz kurz nach einem Suizidversuch, den sie unternommen hatte, weil sie ihrer 24-jährigen Tochter, die von einem Zug überrollt wurde, in den Tod folgen wollte. Dieses Ereignis ist der Tiefpunkt im Leben von Marcela, die bis dahin schon mit vielen Schicksalsschlägen fertig werden musste.

Die wohl bekannteste Dokumentarfilmerin des Nachbarlandes, Helena Tretíková, hat das Leben der inzwischen fast 50-Jährigen 27 Jahre lang mit der Kamera begleitet. Entstanden ist das Langzeitprojekt 1980, als sich die Filmemacherin entschloss, sechs frischvermählte Paare, zufällig ausgewählt in einem Prager Standesamt, die nächsten sechs Jahre zu begleiten. Sie wollte ergründen, warum zu dieser Zeit besonders viele Ehen in die Brüche gingen. Auch die von Marcela hat – nicht nur wegen der fehlenden Wohnung – keinen guten Start und bald darauf ein eben solches Ende.

Das Thema „Wohnung“ zieht sich auch durch das ganze weitere Leben der Protagonistin. Beinahe drei Jahre muss sie warten, bis sie ein Zimmer mit Küche für sich und ihre Tochter in Prags Altstadt bekommt. Dort haust sie ewig, selbst als sie noch ein Kind kriegt und der Sozialismus bereits Geschichte ist. Doch Marcela lebt am unteren sozialen Rand, sucht immer wieder Arbeit und hofft tapfer auf bessere Zeiten. Irgendwann muss sie raus aus der Stadtmitte und landet in einer Satellitenstadt. Diese eigentlich bessere Wohnung wird jedoch, nachdem ihre Tochter verunglückt ist, zum Albtraum, denn sie liegt direkt an dieser Bahnstrecke. Nach dem psychischen Zusammenbruch der Mutter nimmt ihr Leben eine wiederum überraschende Wendung.

Helena Tretíková zeigte die Dokumentation, die nach 12 Jahren Unterbrechung 1999 fortgeführt wurde, letztes Jahr im tschechischen Fernsehen und eine ungeahnte Hilfewelle der Bevölkerung setzt ein, die es Marcela ermöglicht hat, eine Eigentumswohnung in Prag zu erwerben. Nach den vielen Tiefs scheint ihr Leben endlich in ruhigeres Fahrwasser zu gelangen. Und als Zuschauer wünscht man es der Protagonistin von ganzem Herzen. Doch die Regisseurin weiß aus über 30-jähriger Erfahrung – u.a. auch mit der Dokumentation von Lebensläufen junger Straffälliger – „wann immer ich versucht habe, eine Geschichte zu Ende zu denken, habe ich mich geirrt.“

Der Film Tretíkovás hat bei aller Dramatik jedoch so gar nichts an sich von thematisch ähnlichen Formaten im heutigen Privatfernsehen. Die zurückhaltende Filmemacherin und ihr sensibles Kamerateam (Jan Malir, Vlastimil Hamernik, Miroslav Soucek) nähern sich ohne Effekthascherei oder Besserwisserei ihrer Heldin und ermöglichen damit dem Zuschauer, ohne jeden Voyeurismus am Leben Marcelas teilzunehmen. Es gelingt ihr, in Augenhöhe mit Marcela zu sein, sie nicht nur als Opfer der Verhältnisse sondern auch in ihrer Kraft zu zeigen.

Bei der anschließenden Diskussion interessierten sich die sichtlich berührten Zuschauer auch immer wieder dafür, wie es der Regisseurin gelingt, das augenscheinliche Vertrauensverhältnis zu ihrer Protagonistin über einen so langen Zeitraum aufrecht zu erhalten.

Astrid Priebs-Tröger

Astrid Priebs-Tröger

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