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„The Fabric of the Human Body“ von Lucien Castaing-Taylor, Verena Paravel

© Mubi/Mubi

„The Fabric of the Human Body“ auf Mubi: Körperwelten unter dem Messer

Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor erforschen in ihren Filmen die Beziehungen zwischen Mensch, Tier, Technologie und Umwelt. „The Fabric of the Human Body“ wirkt wie Science Fiction.

Als sich die Kamera in „The Fabric of the Human Body“ durch die Gänge des menschlichen Darms bewegt, fällt von außerhalb des Körpers einmal das Wort „Boulevard“. Unmittelbar bringt man die Straße in Zusammenhang mit dem Gedärm, schließlich ist die medizinische Insidersprache gelegentlich so bildreich wie drastisch – später ist von den „Niagarafällen“ und einem „Kalaschinkow-Szenario“ die Rede, womit offensichtlich ziemlich ungute Szenarien gemeint sind.

Tatsächlich aber spricht die Ärzteschaft während der Koloskopie nur von den steigenden Mieten auf dem Pariser Wohnungsmarkt. Die Kongruenz kommt jedoch nicht von ungefähr. In „The Fabric of the Human Body“ zeigt sich der Körper immer wieder als ein Raum, der passiert wird. Ein Raum zudem, der sich im mal besseren, mal schlechteren Zustand präsentiert, der begutachtet wird und gelegentlich auch der umfassenden Renovierung bedarf.

Seit mehr als zehn Jahren erforschen Véréna Paravel und Lucien Castaing-Taylor das affektive Beziehungsgewebe zwischen Mensch, Tier, Technologie und Umwelt in Form von sensuellen filmischen Experimenten. Beide sind ausgebildete Anthropologen „im Stadium der Rekonvaleszenz“ wie sie es nennen. 2006 haben sie an der Harvard University ein disziplinenübergreifendes Labor gegründet, das an den Schnittstellen von Anthropologie und Kino arbeitet.

Anthropologie und Kino

An die Stelle von distanzierter Betrachtung und analytischer Ordnung treten dezentrierte, nicht anthropozentrische Blickperspektiven, Chaos und Immersion. Ihre Filme sind hauptsächlich auf Festivals zu sehen (etwa im Forum der Berlinale) und im Ausstellungskontext. 2017 waren sie auf der Documenta 14 mit „Somniloquies“ (2017) vertreten, einer somnambulen Erkundung des Schlafs und der nächtlichen Sprechakte. „The Fabric of the Human Body“, ihr jüngstes Werk, ist nun auf der Streaming-Plattform Mubi zu sehen.

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In den ersten Arbeiten von Paravel und Castaing-Taylor war der Mensch noch eine Figur am Rand oder im Hintergrund. „Sweetgrass“ (2009), den Castaing-Taylor zusammen mit Ilisa Varbash realisierte, dokumentiert drei Sommer lang die Schafzucht in den Bergen Montanas. In Erinnerung bleibt neben den Bildern elementarer Naturgewalt auch die komplexe Tonspur, ein Mix aus Windrauschen, Glockengebimmel, Kau-, Scharr- und Schnaufgeräuschen.

Eingesperrt mit einem Kannibalen

„Leviathan“ (2012) begleitet ein Industrie-Fischereiboot, das sich mit zermalmender Wucht durch die Gewässer von Neuengland frisst; dabei lässt der Einsatz zahlreicher Go-Pro-Kameras die Perspektiven noch multipler, fremder und abstrakter erscheinen. Die Nähe zum Horrorkino – manche Szenen erinnern in ihrer Drastik fast an einen Slasherfilm – findet in „Caniba“ (2017) dagegen Ausdruck in klaustrophobisch anmutenden Aufnahmen eines japanischen Frauenmörders und Kannibalen. Durch extreme, sich immer wieder in Unschärfen auflösende Close-ups seines Gesichts, findet man sich zusammen mit Issei Sagawa im engen Bildraum eingeschlossen wieder.

Das Regie-Duo Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel.

© Mubi

„The Fabric of the Human Body“ ist ähnlich viszeral und direkt wie „Leviathan“, dringt dabei aber noch tiefer in das, in diesem Fall menschliche, Fleisch ein. Schauplätze des Films sind französische Krankenhäuser und die Körper ihrer Patient:innen. Von den Fluren einer geriatrisch-psychiatrischen Station, auf denen zwei verwirrte alte Frauen umhertappen, geht es in Operationssäle, von der Haut als körperliche Oberfläche und Grenze ins Innere des Menschen. Bei Kaiserschnittgeburten, Prostata- und Wirbelsäulenoperationen irritiert das Zusammenspiel von Hightech und – zumindest für den nicht-professionellen Blick recht brachial anmutendem – Handwerk.

Der Körper zeigt sich als Baustelle, es wird gehämmert, gebohrt, geschraubt und gesägt. Auf der „anderen“ Seite erkunden endoskopische Kameras Herzkammern und Gedärme, manchmal weiß man gar nicht, in welchen Körperarealen man gerade unterwegs ist. Andere Abstraktionseffekte erzeugen die kaum dechiffrierbaren Computer-Visualisierungen.

Korridore und Labyrinthe, Ein- und Ausgänge sind im Film ein durchgehendes Motiv und verbinden das Innen mit dem Außen. Programmatisch beginnt der Film mit dem Gang eines Security-Manns durch die verwinkelten Katakomben des Spitals. Paravel und Castaing-Taylor arbeiten durch ihre Perspektivierung immer wieder Ähnlichkeiten heraus, Krankenhaus und Körper erzählen sie als miteinander verwandte – oder in die Verwandtschaft gezwungene? – Organismen.

Als andere Baustelle erweist sich das marode Gesundheitssystem. In aus dem Off kommenden Dialogfetzen gerät ein Chirurg während der OP aufgrund enger Zeitpläne und übermäßigem Druck fast in Panik. Auch wenn sich in Momenten wie diesem kurz das Fenster zum Institutionenporträt öffnet, verschließt es sich beim Blick auf das nächste Organ wieder. „The Fabric of the Human Body“ geht es eher darum, die Materie, aus der wir gemacht sind und die wir gelernt haben als selbstverständlich anzunehmen, in ihrer Fremdheit und Andersheit erlebbar zu machen.

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