zum Hauptinhalt
Viel Gespür fürs Orchester: Rattle am Pult der Staatskapelle Berlin.

© Peter Adamik

Simon Rattle dirigiert Mahlers Neunte: Auf dem Weg zur letzten Grenze

Gustav Mahlers 9. Symphonie und eine Art Fanfare von Harrison Birtwistle: Simon Rattle dirigiert die Staatskapelle Berlin.

„Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinauswill, muss fort“, schrieb Arnold Schönberg 1912 anlässlich der Uraufführung von Gustav Mahlers Symphonie Nummer 9. „Die eine Neunte geschrieben haben, standen dem Jenseits zu nahe.“

Tatsächlich konnte Mahler vor seinem Tod kein anderes Werk mehr vollenden, seine Neunte hat er selbst nie gehört. Dabei hatte er noch versucht, durch die hakenschlagende Zählweise seiner Symphonien dem Schicksal der großen Vorgänger Beethoven und Bruckner zu entgehen. Der einen Grenze aber, die zwischen Leben und Tod verläuft, kann niemand entkommen.

Mitten in einer Mozart-Serie, kurz vor dem Start in München

Die Vehemenz und Liebe, mit der sich Mahler mit dem unweigerlichen Abschied beschäftigt, der allem Leben auf dieser Erde zugrunde liegt, gestaltet Simon Rattle am Dirigentenpult der Staatskapelle Berlin zu einem raren Konzerterlebnis. Inmitten einer Aufführungsreihe von Mozarts „Idomeneo“ an der Staatsoper Unter den Linden leitet der 68-Jährige eine Aufführung der Neunten, die all seine Qualitäten als Musiker noch einmal ganz nach vorne bringen.

Und das so unwiderstehlich, dass man dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nur dazu gratulieren möchte, Rattle als Nachfolger von Mariss Jansons auserkoren zu haben. So sehr der im Dezember 2019 verstorbene Jansons auch fehlt – hört man dieses Berliner Konzert, kann man München versichern: Rattle bewegt sich auf der Höhe seiner Kunst.

Rattle und die Staatskapelle finden zu wilder Zärtlichkeit

Während er bei „Idomeneo“ didaktisch motivierten Verschleppungen nicht ganz widerstehen kann, um nochmal darauf hinzuweisen, was besonders wichtig und schön ist, dirigiert er Mahler gewaltiges Werk auswendig und mit großer innerer Freiheit. Jahrzehntelang hat sich Rattle mit Mahlers Œuvre beschäftigt, hat es bekniet und berannt.

Und dann läuft an einem Abend alles zusammen: Wie unendlich zart heben die Streicher den Beginn in den Raum, ihr mürber Klang ist schon nicht mehr ganz von dieser Welt. Und wie entschieden drängt die Staatskapelle Berlin darauf ins Leben, mag es mitunter auch noch so unverständlich und grotesk erscheinen.

Rattles Gespür für den Klang des Orchesters, für sein Temperament, seine dunkle Farbenpracht ist fantastisch. Zusammen spielen sich der Dirigent und seine Musiker:innen immer tiefer hinein in eine wilde Zärtlichkeit, in der Schlaglichter auf selten freigelegte, scheue Klänge fallen wie Geschenke.

Wie weit Mahlers Neunte nun tatsächlich an den Rand der Tonalität vordringt, erscheint dabei gar keine Frage mehr, so unmittelbar gegenwärtig wirkt diese Aufführung, so verletzlich, so kraftvoll, so nah an der letzten Grenze. Und an einem Mahler, den man sofort noch einmal hören will.

Apropos Geschenke: Vor der Neunten teilt Simon Rattle eine Gabe mit dem Publikum, die ihm der befreundete Komponist Harrison Birtwistle zum Start seiner Zeit als Chef des London Symphony Orchestra geschenkt hat, die nun auch schon wieder endet.

„Donum Simoni MMXVIII. A Gift for Simon 2018“ ist eine Art schräger Fanfare mit Antiklimax für Holzbläser, Blech und Schlagzeug. Birtwistle dachte dabei wohl auch an ein Porträt des Beschenkten. Es rundet sich nach dem Mahler auf wunderbare Weise.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false