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Szene aus „Age of Content“

© BlandineSoulage

Sex-Roboter und Wackel-Avatare: Ein Spektakel zum Ende von Tanz im August

Wie TikTok und Co. den modernen Bühnentanz beeinflussen, zeigt das Kollektiv (La) Horde in der aufwendigsten Produktion des Festivals. Insgesamt war das Programm in diesem Jahr eher durchwachsen.

Von Sandra Luzina

Scheinwerfer blenden auf, dann rollt ein Auto auf die Bühne des Festspielhauses. Ferngesteuert wird das Fahrzeug-Skelett von seinem französischen Konstrukteur, der auf einer Empore steht. Bei dem teuren Spielzeug handelt sich um eine Spezialanfertigung für das Ballett national de Marseille. 2019 hat das Kollektiv (La) Horde die Leitung der Compagnie übernommen, seitdem sorgt das Trio regelmäßig für Furore. In „Age of Content“ zeigen Marine Brutti, Jonathan Brouwer und Arthur Harel, dass das Digitale schon längst unsere Lebensrealität durchdringt.

Beim Auftakt fühlten sich einige wohl an das Computerspiel „Grand Thaft Auto“ erinnert. Eine Tänzerin in Trainingsanzug erklimmt das Dach des Autos, räkelt sich auf der Kühlerhaube. Dann stürmt eine Meute gesichtsloser Klone auf die Bühne und kämpft um die Vorherrschaft über das Gefährt, das Kapriolen schlägt und Hüpfer macht. Daraus entwickelt sich eine ebenso rasante wie komische Choreografie mit kühnen Stunts. In der zweiten Szene dominieren dann die Avatare. Eine Frau mit Entenpo und ein Mann mit tiefsitzender Hose imitieren hier die ruckelige Motorik von Computerspielfiguren. Der „Content“, um den das Stück kreist, beschränkt sich auf Gewalt und Porno. Die hypersexualisierten Bewegungen werden ausdauernd wiederholt – in allen Stellungen. 

Die sozialen Medien beeinflussen den Bühnentanz

Wie die Tänzer sich in Sex-Roboter und Wackel-Avatare verwandeln, ist phänomenal. (La) Horde lässt das Ensemble auch noch Tik-Tok-Tänze kopieren. Da sieht man dann nicht nur modische Fauxpas – so gruselig wie die Looks sind auch die vorgeführten Geschlechterstereotypen. Beim mitreißenden Finale zu Musik von Philip Glass drehen die 18 Tänzer dann richtig auf und zeigen, was sie können. Ein gewagter Stilmix wird hier präsentiert: Neben TikTok-Styles und Disco-Posen finden sich auch Anleihen bei älteren amerikanischen Musicals. „Age of Content“ ist ein aufwendiges Spektakel. Doch als Zeitdiagnose überzeugt es nicht.

Urban Dance, Voguing und soziale Medien wie TikTok beeinflussen heute den Bühnentanz. Das kann man bei dieser Ausgabe des Festivals beobachten. Oft sind es die jungen Tänzer, die das Bewegungsmaterial einbringen. Doch manche Moves, die früher etwas Widerständiges hatten, wirken heute nur noch stylish.

Die Stimmung war gut bei der 35. Ausgabe von Tanz im August, und das Publikum zeigte sich sehr begeisterungsfähig. Das Programm, das der neue Leiter Ricardo Carmona präsentierte, war aber eher durchwachsen. Es wurde viel zitiert in den Stücken, nur selten liess sich eine unverwechselbare choreografische Handschrift erkennen.

Karnevaleskes Finale

Die Frage, was eine Gemeinschaft zusammenhält, zog sich durch das gesamte Festival. Angesichts multipler Krisen scheint das Kollektiv der einzige Ort zu sein, wo ein solidarisches und empathisches Miteinander möglich ist. „Practising Empathy“ hat die israelische Choreografin Yasmeen Godder ihre Trilogie überschrieben. Der erste Teil aber mutet wie ein Selbsterfahrungs-Trip von sechs Tänzern an.

„Mal – Embriaguez Divina“ von Marlene Monteiro Freitas

© José Caldeira

Der marokkanische Choreograf Taoufiq Izeddiou inszeniert mit einem reinen Männer-Ensemble ein Bühnenritual, das von den Praktiken der Sufi-Bruderschaften beeinflusst ist. Ihm gelingen starke Szenen, doch der deklamierte Text, in dem vor den Verlockungen des Satans gewarnt wird, ist irritierend. Die Performance „D̶A̶R̶K̶MATTER“ lässt einen ratlos zurück. Cherish Menzo und Camilo Mejía Cortéz schütten schwarze Farbe auf den Boden und suhlen sich darin. Doch abgesehen von ein paar Rap-Einlagen passiert wenig. Marlene Monteiro Freitas beschließt das Festival in der Volksbühne mit „Mal – Embriaguez Divina“. Die Choreografin wirft einen bösen Blick auf kollektive Rituale. Ein groteskes und karnevaleskes Finale für den Tanz im August.

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