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Jeder zählt. Ud Joffe bringt die Metamorphosen zur Aufführung.

© Sebastian Gabsch

Saisonstart des Neuen Kammerorchesters Potsdam: Idylle und das traurigste Stück überhaupt

Große Gefühle bringt das Neue Kammerorchester Potsdam in dieser Saison auf die Bühne. Zum heutigen Auftakt: „Metamorphosen“.

Die Welt war mächtig in Veränderung und Aufruhr, als Richard Strauss „Metamorphosen für 23 Solostreicher“ innerhalb von vier Wochen im März und April 1945 komponierte. Das Ende der Spätromantik in diesem Stück fällt damals mit dem Ende der Menschlichkeit zusammen, mit Trauer und Entrüstung über die Zerstörungen des Krieges. Über das Unbegreifbare, das da passierte.

Musik, die berührt

Strauss’ „Metamorphosen“ sind namensgebend für das erste Konzert des Neuen Kammerorchesters Potsdam, mit dem auch die Saison beginnt. Vier Konzerte, in denen es um „Stimmungen“, so das Jahresmotto, gehen soll. „Wir möchten keine rhetorische Aussage treffen, sondern eine Wirkung über den Gesamteindruck der Musik erzielen“, sagt Orchesterleiter Ud Joffe. „Über eine Stimmung, die dabei entsteht.“ Wie der Impressionismus mit Monets Seerosen berührte, so soll die Musik berühren. Weniger Schicksalhaftes in der Musik, sondern mehr Ausdruck, der Empfindungen beim Hörer auslösen soll, Veränderung, Wandel, Metamorphose.

Kein Verstecken

Strauss hat seine „Metamorphosen“, ein anspruchsvolles 30-Minuten-Stück, in keine formale Struktur eingepasst. Er lässt stattdessen 23 Streicher miteinander eine Inszenierung entwickeln. Jeder Musiker hat eine – seine – Stimme, keine ist doppelt besetzt. Es gibt kein Sich-Verstecken oder Anpassen, jeder ist verantwortlich. Jeder muss aufpassen, mitmachen, einstimmen. Jeder zählt – und muss zählen. „Das Stück ist eine Herausforderung für die Musiker. Eine Klangorgie“, sagt Joffe. „Man muss gut aufeinander hören und sich auf eine besondere Intimität einlassen.“

Diese innere Dramatik soll bei der Sitzordnung berücksichtigt werden. Der Zuhörer soll mitten rein in das Geschehen. Dafür wird die herkömmliche Trennung von Orchester und Publikum aufgeweicht. „Vielleicht sitzen die Musiker im Kreis um das Publikum herum oder umgekehrt – wir experimentieren noch“, sagt Joffe. Die Schinkelhalle biete diesen Spiel-Raum, den es in einer Kirche oder dem Nikolaisaal in der Form nicht gibt. Neben Strauss’ „Metamorphosen“ wird Samuel Barbers „Adagio for Strings“ aus dem Jahr 1938 aufgeführt: ein hochemotionales Werk, das 2004 von den Hörern der BBC zum „traurigsten klassischen Stück“ gewählt wurde. Der große kompositorische Bogen entsteht durch ein sich immer wieder veränderndes melodisches Motiv, das die Stimmung nicht festlegt, sondern sie stattdessen zwischen Trauer und Schönheit schweben lässt.

Das Genie Britten

Das dritte Stück für „Metamorphosen“ ist Benjamin Brittens „Variations on a Theme of Frank Bridge“. Das Werk ist eine Hommage Brittens an den von ihm bewunderten Komponisten Bridge, bei dem Britten Kompositions-Unterricht hatte und den er sehr schätzte. Die zehn Variationen des Stücks sind verschiedenen Komponisten wie Rossini, Ravel und Stravinsky, oder verschiedenen Genres gewidmet: Italienische Arien, Wiener Walzer, Marsch oder Fuge. Diese Charaktervariationen hatte Beethoven schon ausprobiert, sagt Joffe, und Britten griff es wieder auf. „Britten war ein Genie.“ Die themengebende Melodie zieht sich durch alle Charaktersätze, manchmal an versteckten Orten, in einem neuen Rahmen, als Verzierung oder unsichtbares Fundament. Der Zuhörer nehme das Kompositionsprinzip nicht unbedingt wahr – aber das sei auch nicht ausschlaggebend, sagt Joffe. Wichtig ist der Gesamteindruck. Auch Monets Seerosen wirken erst, wenn man sie, mit etwas Abstand, im großen Bild betrachtet.

Das zweite Jahreskonzert des Neuen Kammerorchesters findet Silvester in der Erlöserkirche statt: „Liebesträume“, große Gefühle zum Jahreswechsel. Am 7. März wird mit dem Geiger Guy Braunstein Haydns Symphonie „Mit dem Paukenschlag“ aufgeführt. Das Jahr endet am 15. Juni mit böhmischer „Idylle“ in der Friedrichskirche. 

Metamorphosen, heute Abend um 19.30 Uhr in der Schinkelhalle, Schiffbauergasse, Karten kosten 20, ermäßigt 15 Euro

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