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Rede an die Nation. Putin am 21. Februar in Moskau vor der Generalversammlung der Russischen Förderation.

© imago/ITAR-TASS/IMAGO/Sergei Savostyanov

Russland und der Westen: Der ewige Minderwertigkeitskomplex

Der Historiker Manfred Hildermeier analysiert die Mentalität einer rückständigen Großmacht.

In seiner Rede zum Jahrestag des Einmarsches in die Ukraine hat der russische Präsident Putin einmal mehr den Westen für den Krieg verantwortlich gemacht. Das ist durchaus nicht nur Propaganda. Man darf davon ausgehen, dass Putin selbst an die Wahrheit dieser Behauptung glaubt. Das aber offenbart eine Grundkonstante im Denken Russlands: die Bezogenheit seiner Akteure auf „den“ Westen.

„Wenn der ,Westen’ als Feind betrachtet wurde, bemühte man sich um Distanz und betonte seine eigenen Werte und Traditionen. Wenn er in ein günstiges Licht rückte, suchte man seine Nähe und bemühte sich, Errungenschaften, die man für überlagen hielt, zu übernehmen. Nur eines blieb selten: gleichmütiges Desinteresse.“ So umreißt Manfred Hildermeier das Thema seines neuen Buches, „Die rückständige Großmacht“.

Der Osteuropahistoriker und langjährige Göttinger Ordinarius, Verfasser der Standardwerke „Geschichte Russlands“ und „Geschichte der Sowjetunion 1917-1991“, geht darin der Wahrnehmung des Westens durch die politischen und geistigen Eliten Russlands nach. Das gilt unverändert für das 20. Jahrhundert, als Russland zur Sowjetunion umgeformt wurde. Unter Stalin setzte die forcierte Industrialisierung ein. Gleichwohl spielte bei dem Versuch, „Russland ins industrielle Zeitalter zu katapultieren, der zum Klassenfeind erklärte Westen eine Schlüsselrolle“.

Rückständigkeit als Selbstzuschreibung

Den „Weg technischer und infrastruktureller Importe aus den industriell fortgeschrittenen Ländern des westlichen Kapitalismus“ setzte die Sowjetunion nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs bis zu ihrer Auflösung fort.

Hildermeier zieht als Fazit seines gerafften, gleichwohl ungemein detailreichen Überblicks, dass „die meisten russischen Herrscher samt den ihnen ergebenen Eliten diesen Nachholbedarf gegenüber Europa selbst als solchen empfanden“. Und, kurz und knapp: „Rückständigkeit war daher seit Peter dem Großen bei aller Unterschiedlichkeit des Inhalts und des jeweiligen Bezugspunkts für Abhilfe eine Selbstzuschreibung“.

Diese „Rückständigkeit“, die als Begriff heute meist als abwertend abgelehnt wird, ist in der russischen Geschichtswissenschaft seit der ausgehenden Zarenzeit ausgeprägt: „Damit nahm Andersartigkeit den Charakter des Defizitären an und erhielt Autochthones den Beiklang von Unterlegenem.“ Hildermeier hält am Begriff der Rückständigkeit, der heute meist als abwertend abgelehnt wird, fest und sieht die seit Peter dem Großen unentwegt vorgenommenen „Maßnahmen zu ihrem Abbau“ als „Zwischenetappen fortschreitender Verflechtung“.

Rückständigkeit, so verstanden, verliert ihre „normativ-teleologische Belastung“, bleibt aber „eine unverzichtbare analytische Kategorie zum Verständnis der russischen Geschichte“. Von „Rückständigkeit“ würde Präsident Putin niemals sprechen – aber genau aus diesem Inferioritätskomplex heraus, so darf man aus Hildermeiers Buch schlussfolgern, hat er den Krieg begonnen.

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