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So bequem kann warten sein. Herr Oshima ist gerade aus Japan angekommen. Auf seinen Anschlussflug wird er vergeblich warten.

© Kameke / sehsüchte

Kultur: Ruinen, Musik und neue Experimente Das studentische Filmfestival „Sehsüchte“ entführt in poetisch-skurrile Welten

Wie schlafende Giganten liegen sie in der italienischen Landschaft. Abgebrochene Brücken und Gerippe von mehrstöckigen Wohnhäusern.

Wie schlafende Giganten liegen sie in der italienischen Landschaft. Abgebrochene Brücken und Gerippe von mehrstöckigen Wohnhäusern. Krankenhäuser ohne Patienten, Garagen und ein verkommenes Schwimmbecken, gebaut für die Olympiade, aber genau einen Meter zu kurz geraten. Auf einer Brücke, die abgebrochen im Nichts endet, hat sich eine Familie ein Haus gebaut. Sogar ein Garten wächst auf der frei in die Landschaft ragenden Ebene. Über einem verlassenen halbfertigen Stadion ziehen die Wolken. Das Bild hat etwas Poetisches. Was sind diese Bauwerke heute? Nur Ruinen oder Kunstwerke? Beschreiben sie gar ein italienisches Lebensgefühl?

600 solcher halbfertigen Bauten liegen in Italien und schlafen den Schlaf des Vergessens. Jeder weiß, dass sie existieren, aber wo genau, darüber gibt es kein Verzeichnis. Filmemacher Benoit Felici hat sich auf die Suche gemacht, quer durch Italien. In „Unfinished Italy“ ernennt er das Unvollendete zum italienischen Architekturstil. Ein Dokumentarfilm, aber auch ein Roadmovie. Benoit Felicis Werk ist auf dem diesjährigen Filmfestival Sehsüchte nicht der einzige Dokumentarfilm, der mit neuen Formen spielt. So poetisch wie Felicis Bildsprache, so erfrischend ist auch Michael Wendes Idee, die Dokumentation eines Dirigentenwettbewerbs mit Animationen zu mischen. Entstanden ist mit „Der Taktstock“ eine packende und berührende Ergründung des Dirigierens. Im Stil der Sendung mit der Maus moderiert die Stimme von Herbert Feuerstein einen animierten Taktstockbauer, der den Film immer wieder unterbricht, Fragen stellt und nicht verstehen kann warum ein Orchester eigentlich einen Dirigenten braucht und wozu der Dirigent das kleine hölzerne Stäbchen. Je weiter der Wettbewerb voranschreitet, desto klarer wird selbst dem unmusikalischsten Zuschauer, welche anstrengende und verantwortungsvolle Position die Figur im schwarzen Frack vor dem Orchester übernimmt. Und wie schwer es ist, diese Arbeit in Worte zu fassen. „Der Dirigent übersetzt seine Emotionen durch das Orchester in Musik“, lautet die einfachste Erklärung. Wie üben die denn? Fragt sich der Taktstockbauer. Nicht jeder habe ja ein Orchester im Keller. Die Antworten der Kandidaten bestätigen, was man schon ahnte, aber sich nicht vorstellen kann. Dass da jemand ganze Partituren lesen und hören kann, ohne dass ein Instrument spielt.

Einer der Kandidaten saß sogar im Publikum des Babelsberger Thaliakinos. Auf die anschließende Frage wie er denn den Film finde, sagt er nur „Unterhaltsam“ und knistert mit seiner Chipstüte. Für Nicht-Dirigenten ist der Film mehr als das. Er ist wie eine neue Erfahrung. Und als am Ende des Films der Sieger ein letztes Mal das Bamberger Symphonieorchester dirigiert, ist man so gefangen, dass man seine Erschöpfung im eigenen Körper zu spüren meint.

Entspannter geht es unter der Woche zwischen den Filmen im Foyer zu. Filmemacher stehen nur vor und nach den Vorstellungen in Grüppchen, dann verschwinden sie, wahrscheinlich zur Festival-Lounge, die sich dieses Jahr an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) etwas weitab anfühlt. Am nervösesten scheinen die Moderatorinnen. Eine kommt in der Pause gleich mit vier bis fünf Packungen Zigaretten in einer dünnen Plastiktüte zurück ins Thalia. Und die Organisatoren tauschen sich draußen vor dem großen Glasfenster darüber aus, wer es nach der Eröffnungsparty als Letzter ins Bett geschafft hat.

Zur Abendvorstellung um 21 Uhr bildet sich zum ersten Mal eine dichte Schlange im Foyer, um sich im Filmblock „Lost in Translation“ in sonderbare und surreale Liebesgeschichten verwickeln zu lassen. Manchmal sind es gerade die eigentlich traurigen Geschichten, die dem Zuschauer ein Lächeln auf das Gesicht schreiben. Da fliegt der Geschäftsreisende Herr Oshima einfach im weißen Hotelmorgenmantel durchs Fenster in die Berliner Nacht. Und bleibt verschwunden. Oder in „Maybe she loves everyone“, ein Sprachkurs der Liebe, der von einer CD in einem Auto läuft: „Guten Tag“ sagt eine Männerstimme auf Englisch. Eine Frauenstimme wiederholt jeden Satz auf Französisch. Harmlos sind die ersten Sätze, bevor es zu den existenziellen Fragen geht wie „Wer bin ich für dich?“, die genauso emotionslos gestellt und wiederholt werden. Aber die Emotionen stecken in den Bildern.

Dieses sensible Gespür für das Übersetzen von großen Gefühlen in neuen Formen und Gesten abseits der bekannten Klischees zeichnet viele der längeren Wettbewerbs-Beiträge aus. Und es scheinen gerade die Dokumentarfilme zu sein, die Experimente wagen und neue Formen für sich finden.

Das Programm im Internet:

www.sehsuechte.de

, ine Zimmer

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