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Kultur: Rhythmusgefühl und Leidenschaft Neues Kammerorchester besucht die „Tango Bar“

„Guck doch nicht immer nach dem Tangogeiger hin“, räsoniert Friedrich Hollaender in seinem schmissigen Revuechanson – „was ist schon dran an Argentinien?“ Diesbezüglich eine ganze Menge, und so lockte das Neue Kammerorchester Potsdam unter Leitung von Ud Joffe getreu seines Saisonmottos „Zum Wohl!

„Guck doch nicht immer nach dem Tangogeiger hin“, räsoniert Friedrich Hollaender in seinem schmissigen Revuechanson – „was ist schon dran an Argentinien?“ Diesbezüglich eine ganze Menge, und so lockte das Neue Kammerorchester Potsdam unter Leitung von Ud Joffe getreu seines Saisonmottos „Zum Wohl!“ das Publikum am Freitag zum Besuch in eine „Tango Bar“. Als selbige präsentiert sich die Friedenskirche mit einer ungewöhnlichen Sitzordnung, bei der das Orchester an der linken Seite in Längsrichtung platziert und halbkreisförmig vom Publikum umsessen ist. Die Offerten verheißen raffiniert gemixte Tango-Cocktails, die einem zu Glücksgefühlen verhelfen sollen.

Zur Einstimmung kredenzen die Musiker jene skurrile Fantasie „Le buf sur le toit“ von Darius Milhaud, die dieser aus populären argentinischen Melodien mit fünfzehnmaligen Spritzern des Liedrefrains vom „Ochsen auf dem Dach“ eifrig geschüttelt hat. Ein musikalisches Kaleidoskop, mit viel Spielwitz vorgeführt und facettenreich angereichert mit Ratschenschmiss, schrägen Flötentönen und dissonanzenreichen Konglomeraten à la Danziger Goldwasser – ein hörköstlicher Genuss. Der sich fortsetzt mit Mixgetränken aus dem Hause Astor Piazzolla, jenes argentinischen „Tango Nuevo“-Erfinders, der allerdings zu Beginn seines musikalischen Lebens ein größeres Interesse an Jazz und Bach findet als am Tango. Angefeindet und gefeiert, leitet er mit seiner neuen Stilrichtung die Renaissance des fast vergessenen Tango Argentino ein.

Doch nach den Rhythmen und Melodien des „Nuevo“ kann man kaum noch tanzen, sondern nur noch gebannt lauschen. Konzertstücke eben. Wie jenem „Libertango“-Hit, mit dem Piazolla das Tango-Tor zu unbändiger Freiheit aufgestoßen hat. Sentimentale Erregungssteigerungen münden in einen sinfonischen Sound: schwelgend, an- und abschwellend, voller rhythmischer Leidenschaft. Und wo bleibt der eingangs zitierte Tangogeiger? Natürlich nicht außen vor, aber die Hinguckerei zu ihm beginnt für Konzertmeister Wolfgang Bender so richtig erst nach der Pause, wo er den Bogen zwischen schwelgenden Passagen und unerbittlicher rhythmischer Präzision zu spannen versteht.

Doch da muss er sich die Publikumsaufmerksamkeit mit dem Bandoneonisten-Star Lothar Hensel teilen. Straff phrasiert, lasziv bis sentimental im Klang, mit enormem Rhythmusgefühl spielt er den Solopart in Piazzollas „Suite Punta del Este“. Sicher finden seine Finger die richtigen der zahlreichen Knöpfe seines Instruments, weiß er mit Virtuosität, akzentuierter bis geheimnisvoller Ausdrucksintensität zu begeistern. Vielfarbig sein elegischer Monolog in „Adios Nonino“ (Adieu, Väterchen), sein lebhafter, alle Sinne anregender Melancholieblick auf die französische Hauptstadt „Chau Paris“. Doch stets wähnt man sich in südamerikanischen Gefilden. Viel Schmachten halten er und das Orchester für „Por una cabeza“ von Carlos Gardel bereit, zackige Rhythmen und harte Streicherklänge für das kriegsanklägerische „El Marne“ von Eduardo Arolas. Ein Abend der großen Gefühle! Peter Buske

Peter Buske

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