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Alice Diop.

© action press/BORDE-JACOVIDES / BESTIMAGE

Empathie ist ein komplexes Gefühl : Alice Diop – die neue Stimme des französischen Kinos

Die Regisseurin Alice Diop ist mit „Saint Omer“ die Entdeckung des Jahres. Wie die Tochter senegalesischer Eltern zur neuen Stimme des französischen Kinos wurde.

Von Andreas Busche

In den vergangenen Monaten hat die französische Regisseurin Alice Diop das Filmgeschäft von seiner härtesten Seite kennengelernt. Pressetermine, Festivaleinladungen, Preisverleihungen: Sie pendelte regelmäßig zwischen Paris und Los Angeles.

Alle wollen etwas von Diop, seit sie im September auf dem Filmfestival Venedig für ihren ersten Spielfilm „Saint Omer“ doppelt ausgezeichnet wurde: für das beste Debüt und mit dem Großen Preis der Jury. Als sie für ihren Silbernen Löwen auf die Bühne des Palazzo del Cinema zurückkehrte, stand Diop sprachlos im Rampenlicht: Zum ersten Mal war in Venedig eine schwarze Regisseurin mit dem zweitwichtigsten Preis ausgezeichnet worden.

Doch Erfolg weckt Begehrlichkeiten. Zwei Interviewtermine in Berlin hatte Alice Diop schon absagen müssen, am Ende klappt es nur über Zoom – aus Los Angeles, wo „Saint Omer“ für den Independent Spirit Award, den Oscar des unabhängigen Films, nominiert war (allerdings leer ausging). Eine halbe Stunde hat sie Zeit vor dem nächsten Termin, dann werden es doch vierzig Minuten, weil es ja so viel zu sagen gibt.

Wie sieht die französische Identität heute aus?

Alice Diop, geboren 1979 in einem Pariser Vorort, betont stets, dass sie nicht stellvertretend für alle schwarzen Französinnen sprechen möchte. Aber ihr ist bewusst, dass sonst gerade keine anderen Intellektuellen diese Aufgabe übernehmen. Diop möchte die Öffentlichkeit nutzen, auch weil ihre Filme zutiefst persönlich sind. In „Saint Omer“ spielt die schwangere Universitätsprofessorin Rama (Kayije Kagame), die zu Recherchezwecken dem Prozess gegen eine Kindsmörderin beiwohnt, ihr Alter Ego.

Auch zwischen Diop und Fabienne Kabou, die sie zu „Saint Omer“ inspirierte, gibt es biografische Parallelen. Beide Frauen sind Töchter senegalesischer Immigranten, beide besuchten als Nutznießerinnen der französischen Meritokratie Universitäten (Diops Vater war Automechaniker, ihre Mutter putzte), und sie haben ähnliche Erfahrungen in der weißen Mehrheitsgesellschaft gemacht – obwohl Diop französische Staatsbürgerin ist.

Auch darum faszinierte sie die Angeklagte, die im Gerichtssaal so eloquent Auskunft gab, aber undurchschaubar blieb. „Als ich am Prozess teilnahm, hatte ich noch nicht die Absicht, einen Film zu machen“, sagt Diop. „Fabienne Kabou war eine geheimnisvolle Frau, und dieses Geheimnis lüftete sich im Verlauf des Prozesses auch nicht. Dadurch wurde man auf sehr persönliche Fragen zurückgeworfen: Was bedeutet es, Mutter zu sein, was ist Mutterschaft, und wie sieht das Verhältnis zur eigenen Mutter aus?“

Um ein Urteil geht es in ihrem Gerichtsdrama, benannt nach der Kleinstadt, in der der Prozess stattfand, nicht; Kabou hat die Tat nie abgestritten. (2016 wurde sie zu einer Haftstrafe von zwanzig Jahren verurteilt.) Diop interessiert sich vielmehr für die Tatumstände, die eine junge Mutter dazu bringen, ihre 15 Monate alte Tochter zu töten.

„Wir sind hier um zu verstehen“, sagt die Richterin einmal. Ein Großteil des Films spielt sich in den Nahaufnahmen vom Gesicht der Hauptdarstellerin Guslagie Malanda ab, deren Blicke der Kamera nicht trotzen; hinter ihnen zeichnet sich eher eine unergründliche Leere ab.

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Die Frage, die einen nach „Saint Omer“ beschäftigt, lautet: Was hat Diop dazu bewogen, einer Frau, die von allen als „Monster“ angesehen wurde, so viel Empathie entgegenzubringen – ohne die Tat zu relativieren? „Empathie ist vielleicht der falsche Begriff für die komplexen Gefühle, die ich während der Verhandlung gehabt habe“, antwortet sie nach kurzem Überlegen. Das Wort Komplexität wird Diop im Laufe des Gesprächs noch öfter benutzen.

Auch deswegen gibt sie der Lebensgeschichte von Fabienne Kabou, die im Film Laurence Coly heißt, so viel Raum. Ihre Aussagen erklären nichts, aber sie geben der unerklärlichen Tat einen Kontext.

Ich mache Filme, um die Existenz einfacher Leben zu bewahren, die verschwunden wären, hätte ich sie nicht gefilmt.

Alice Diop, Regisseurin

Alice Diop kommt ursprünglich vom Dokumentarfilm; sie hat einen Abschluss an der Pariser Elite-Universität Sorbonne in afrikanischer Kolonialgeschichte und danach Visuelle Soziologie studiert.

Diese Schwerpunkte ziehen sich auch durch ihre Filme. Für „Vers la tendresse“ über die Männlichkeitsbilder migrantischer Jugendlicher gewann Diop 2016 den französischen Filmpreis César, ihr Dokumentarfilm „Wir“, 2021 auf der Berlinale mit dem Encounters-Preis ausgezeichnet, dreht sich um Fragen der französischen Identität.

Die ist auch zentrales Thema in „Saint Omer“. Diop sagt, dass eine weiße Mutter, die ihr Kind tötet, anderen Fragen ausgesetzt sei als eine Fabienne Kabou. Eine schwarze Kindsmörderin ist doppelt stigmatisiert: durch ihre Tat und ihre Herkunft.

Schwarze Französinnen sind vielen Projektionen ausgesetzt

Die gesellschaftlichen Fragen, die sie stellt, aber auch ihre präzise dokumentarische Methode machen Alice Diop gerade zu einer der interessantesten neuen Stimmen im europäischen Kino. „Mir ist wichtig“, sagt sie über ihren Film, „dass diese schwarzen Körper auch eine universelle Geschichte haben.“

Ihr sei bewusst, dass weiße Frauen ihre Filmfigur Laurence mit anderen Augen betrachten, als schwarze Mütter es tun. „Aber ich kenne Frauen wie Rama und Laurence, die die Erfahrung der Immigration durchgemacht haben. Diese Mutterschaft hat viel mit dem Gefühl des Fremdseins zu tun.“ 

Diop spricht von Projektionen, denen man in Frankreich als schwarze Frau ausgesetzt sei. „Ich wurde zum Beispiel dafür kritisiert, dass ich in ‘Saint Omer’ Marguerite Duras und Pier Paolo Pasolini zitiere. Das sei anmaßend von mir.“

Im Film wird Laurence wegen ihrer Eloquenz und Wortwahl misstrauisch beäugt, eine Erfahrung, die Diop nur zu gut kennt. „Sprache hat etwas mit Macht und Hierarchien zu tun hat, sie ist eine Form des Widerstands.

Die Beherrschung der Sprache hat mir in meinem Leben geholfen, mich gegen rassistische Anfeindungen zur Wehr zu setzen.“ Auch mit ihren inzwischen verstorbenen Eltern hat sie Französisch gesprochen, Wolof beherrscht sie nicht.

In „Wir“ sagt Alice Diop einen schönen Satz, in Erinnerung an ihre Mutter: Sie mache Filme, um die Existenz einfacher Leben zu bewahren, die verschwunden wären, hätte sie diese nicht gefilmt. „Wenn ich das Publikum also mit dem Leben einer schwarzen Frau konfrontiere,“ entgegnet sie auf die Frage nach ihrer Motivation, „und das Publikum dadurch gezwungen ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen, ist das für mich ein politischer Akt.“ Alice Diop hat ihr Leben lang nach Figuren im Kino gesucht, in denen sie sich wiedererkennt. Heute macht sie diese Filme einfach selbst.

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