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Christlicher Prophet. Martin Luther King Jr. 1963 am Linvoln Memorial in Washington bei seiner berühmten Rede „I Have A Dream“.

© imago images/Eibner Europa

Philosophie und Aufklärung: Die nichtmenschliche Wahrheit

Auf Kants Schultern: Omri Boehm plädiert für einen radikalen Universalismus

Von Gregor Dotzauer

Der Streit zwischen Universalisten und Relativisten ist wahlweise ein philosophischer Dauerbrenner oder ein alter Hut. Hundertmal ist er schon aufgeflammt und wieder ad acta gelegt worden. Gelten moralische Grundsätze für alle Menschen ohne Rücksicht auf Kulturen, Zeitalter und Traditionen, oder sind die Wahrheiten, denen sich Gesellschaften verpflichten, Produkte der jeweiligen Machtverhältnisse und Umstände?

Wer zu Ersterem neigt, muss sich schnell als Eurozentriker abstempeln lassen, unfähig, die reale Vielfalt der Welt zu erfassen. Wer zu Letzterem neigt, gilt schnell als Nihilist, der Sodom und Gomorrha Vorschub leistet, indem er alles gleichermaßen für erlaubt hält.

Unter denen, die in dieser Zwickmühle vermitteln, hat sich zuletzt insbesondere Michael Walzer hervorgetan. Ein emeritierter Princeton-Philosoph, der davon ausgeht, dass Gemeinschaften ihre Werte im Zusammenleben vor Ort entwickeln und dann auf Konflikte anderswo anwenden. „Lokale Kritik – Globale Standards“ hieß das Buch, in dem er 1994 vorschlug, moralische Argumente nach „thick“ und „thin“ zu unterscheiden.

Umkehrung der Perspektive

„Thick“ für erfahrungsgesättigte, im Alltag erprobte Gewissheiten. „Thin“ für die daraus gewonnenen Maßstäbe, die in schwächerer, auf wenige Grundüberzeugungen heruntergekühlter Form exportfähig sind. Walzer kehrte die Perspektive, nach der universale Prinzipien der eigenen Kultur angepasst werden, schlicht um. Verstörte Universalisten geißelten ihn als haltlosen Partikularisten.

Inzwischen sind die Fronten längst wieder unversöhnlich. Die postkoloniale Linke attackiert den Universalismus als imperialistische Erfindung und bringt unter anderem vor, dass sich der größte aller Universalisten, Immanuel Kant, ähnlich wie Hegel, abfällig über andere Rassen geäußert habe. Im Gegenzug bringt diese Identitätslinke alles Nichtwestliche, Nichtchristliche, Nichtheteronormative ins Spiel und lässt es um Repräsentation rangeln – und zwar weniger im Namen legitimer Emanzipationsbestrebungen als in Gestalt eines feindseligen Lobbyismus.

Der Israeli Omri Boehm, Associate Professor an der New School for Social Research in New York, will den Universalismus nun rehabilitieren – und ihn gegen identitätspolitische Manöver verteidigen. Am Beispiel des 2017 im Whitney Museum ausgestellten Gemäldes „Open Casket“, das den von Weißen ermordeten schwarzen Teenager Emmett Till in seinem Sarg zeigt, erklärt er, wie eine hypertrophe Kritik an kultureller Aneignung – die Malerin Dana Schutz ist eine Weiße – universalistische Ideale von Grund auf torpediert.

Kampfschrift gegen den Liberalismus

Sein Essay „Radikaler Universalismus“ betreibt diese Kritik an einer Cancel Culture, deren Unterfraktionen Gefahr laufen, sich gegenseitig aus dem diskursiven Feld zu schlagen, indes nur nebenbei. Das Verstörende ist, dass es sich bei seinem Buch vor allem um eine Kampfschrift gegen so unterschiedliche Schulen wie den Liberalismus und den Pragmatismus handelt.

Im Streben „nach einem höheren Gesetz, das nicht menschengemacht ist“, polemisiert Omri Boehm gegen John Rawls, der mit seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ zum Hausphilosophen der Sozialdemokratie wurde. Er attackiert Richard Rorty, den prominentesten Nachfolger des Pragmatisten John Dewey und dessen Einflüsterer Wendell Holmes Jr. Und er hält mit unmissverständlicher Härte fest: „Der Liberalismus ist kein Humanismus“; er begehe „Verrat am Universalismus“.

Vor zwei Jahren erregte Boehm Aufsehen, als er empfahl, die Zweistaatenlösung zugunsten einer binationalen Föderation von Israelis und Palästinensern zu verwerfen. „Israel – eine Utopie“ war ein politisches Buch mit einer philosophischen Perspektive. „Radikaler Universalismus“ ist ein philosophisches Buch mit einer politischen Perspektive.

Unterstützer der Initiative Weltoffenheit

In gewisser Weise liefert Boehm, der die Initiative Weltoffenheit GG 5.3 unterstützt und sowohl die Charakterisierung des BDS als antisemitisch wie dessen Boykottforderungen gegenüber Israel verurteilt, damit die theoretische Begründung seiner praktischen Vorstellungen nach. Mehr noch: Während Richard Rorty stets betonte, Demokratie komme vor Philosophie und bedürfe höchstens der philosophischen Artikulation, nicht aber der Untermauerung, insistiert er darauf, dass Philosophie vor Demokratie komme.

Für Boehm ist „Radikaler Universalismus“ nach eigener Aussage ein Gegenentwurf zu Rortys „Achieving Our Country“ (Stolz auf unser Land), einem Buch, das aus den besten Traditionen der USA heraus eine Art patriotischen Egalitarismus entwirft. Aus seiner Sicht kommt Rorty damit nicht über einen „Wir-Liberalismus“ hinaus, der bei Weitem nicht die Inklusionsmacht einer wirklich menschheitlichen Vision besitzt.

Was Boehm einklagt, spielt lebensweltlich erstaunlicherweise keine Rolle: Mit dem Gros seiner liberalen und pragmatistischen Gegner dürfte er viele politische Vorstellungen teilen. War es nicht Rorty, der, lange bevor man über die Auswüchse der Wokeness zu stöhnen anfing, die kulturelle Linke daran erinnerte, dass sie sich um ökonomische Basisfragen kümmern solle?

Paradigma Abschaffung der Sklaverei

Das historische Paradigma, das Omri Boehm untersucht, ist Amerikas Kampf um die Abschaffung der Sklaverei – mit Ausblicken bis zur Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre unter Martin Luther King. In der Frage, welche moralischen Konsequenzen sich daraus ableiten lassen, läuft als Subtext aber immer die Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern mit.

Boehms Essay beginnt mit einer Fallstudie zu John Brown, einem weißen Abolitionisten, der 1859 mit einer Schar von Getreuen Harper’s Ferry überfiel, ein Waffenarsenal in Virginia. Mit der Beute sollten die Sklaven einen Befreiungskrieg anzetteln. Das ging gründlich schief. Brown, vom Charakter her selbstgerecht und monomanisch, wurde gefangen genommen, zum Tode verurteilt und erhängt.

Henry David Thoreau und Victor Hugo sahen in der Hinrichtung seinerzeit eine schwere Ungerechtigkeit. Andere wie Nathaniel Hawthorne erklärten Brown zu einem „blutrünstigen Fanatiker“. In mehreren Variationen greift Boehm eine Formulierung von Victor Hugo aus einem Offenen Brief an die „London Times“ auf. „Mir scheint“, schreibt Hugo, dass am Tag von Browns Erhängung „ein Teil der Aufklärung der Menschheit verdunkelt würde, dass sogar die Ideen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit an dem Tag verfinstert würden, der die Ermordung der Befreiung durch die Freiheit erleben sollte.“

Die Ermordung der Befreiung durch die Freiheit: Boehm sieht darin die Widerrufung des aufklärerischen Versprechens, für Brüderlichkeit zu sorgen. John Browns Hinrichtung sei nicht nur ungerecht gewesen, sie habe den Begriff der Gerechtigkeit selbst entstellt.

Ungerechte Gesetze sind keine Gesetze

Wer so argumentiert, muss sich notwendig über die geschichtliche Figur des John Brown erheben. Wie immer man sein Verhalten zu seiner Zeit beurteilt, er hat im Dienst ewiger universalistischer Prinzipien gehandelt – ohne geltendes Recht zu beachten. Mit Martin Luther King argumentiert Boehm einleuchtend, dass ungerechte Gesetze gar keine Gesetze seien: Man dürfe sich über sie hinwegsetzen. Die Frage ist nur: Welcher Instanz kommt die Autorität zu, über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu urteilen? Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Rebellion und Terrorismus?

Wenn John Browns bewaffneter Widerstand und Martin Luther Kings christliche Friedfertigkeit gleichermaßen universalistischen Prinzipien huldigten, waren Kings schärfster Kritiker Malcolm X, der zusammen mit Elijah Muhammad die Nation of Islam anführte, und die Black-Panther-Bewegung dann nicht verachtungswürdige Partikularisten, indem sie gegen die white supremacy schlicht eine black supremacy setzten? Sie geraten erst gar nicht in Boehms Fokus.

Boehm plädiert für einen Universalismus, der sich auf eine höhere, das moralische Gesetze des Einzelnen wie das der Gemeinschaft überschreitende Autorität berufen kann. Mit Kant spricht er mehrfach von einer „metaphysischen Menschheitsidee“ und „metaphysischen Gerechtigkeitsprinzipien“. Mit „metaphysisch“ will Boehm zunächst nur die „positivistische Reduktion des Menschen auf die blinde Natur“ zurückweisen: Moral ist mit ihr tatsächlich nicht zu haben. Darin würden ihm wohl auch die meisten seiner Gegner folgen.

Doch es ist mehr im Spiel. Denn Boehm ist vor allem die Ersetzung des Begriffs der Wahrheit durch den Begriff des Konsenses ein Dorn im Auge. Dass bloße Konsensbildung zu Lügen und Ungerechtigkeiten führen kann, lässt sich nicht von der Hand weisen. Mit Tocqueville darin die „Tyrannei der Mehrheit“ zu fürchten, führt jedoch an der Wirklichkeit moderner demokratischer Gesellschaften vorbei. Sie leben nun einmal von wechselnden Mehrheiten – und von der Hoffnung, dass sich die Zusammensetzung von Parlamenten wie die öffentliche Meinung ändert. Deswegen unterwirft man sich Recht und Gesetz auch im Widerspruch.

Wahrheit im Singular

Insofern ist der Singular, mit dem Omri Boehm die Wahrheit ausstattet, mehr als fragwürdig. Sind Todesstrafe oder Abtreibung nicht klassische Beispiele dafür, dass Gesellschaften rechtlich verankerte Konsenslösungen brauchen, weil die entsprechenden Regelungen zwar auf guten Argumenten beruhen, doch nicht auf letzten Begründungen?

an muss den Wahrheitsbegriff dazu gar nicht so pulverisieren, wie es Richard Rorty in späten Jahren fast trotzig tat. Doch alles Vorläufige, wie es Rorty als Skeptiker für alle Erkenntnisse in Anspruch nahm, ist Boehm suspekt. Sosehr er Rortys Mahnung an die Kontingenz unseres Daseins, also die Tatsache, dass wir in Verhältnisse hineingeboren werden, deren „zufallsblinder Prägung“ wir nicht entgehen, akzeptiert, sosehr versucht er, diese Beschränkung mit Kants Aufklärungsbegriff zu überwinden.

Dabei kommt er ohne Gott, doch nicht ohne eine religiöse Dimension aus. So, wie Jürgen Habermas in den letzten Jahren versuchte, religiöse Gehalte in säkulare zu übersetzen, versucht er mit Hilfe von Maimonides, dem großen sephardischen Rationalisten, und Rabbi Abraham Joshua Heschel die Figur des Propheten für die heutige Welt zu retten. Das ist nicht nur im Hinblick auf die vielen falschen Propheten ein zwiespältiges Unterfangen, es hapert auch an einer klaren Vorstellung davon, was Übersetzung in diesem Zusammenhang überhaupt bedeuten soll. Was, fragt Boehm einmal, „wenn das, was sich der Übersetzung entzieht, die Idee des Universalismus selbst ist?“

Das Kabinettstück ist indes – auf den Schultern von Kant – eine revidierte Lektüre der alttestamentarischen Erzählung von der „Bindung Isaaks“, wie Abrahams im letzten Moment suspendierte Opferung seines Sohnes im jüdischen Kontext heißt. Boehm weist philologisch nach, dass der auftretende Engel, der Abraham von seiner Tat abhält, erst nachträglich in den Text eingefügt wurde. So erscheint Abraham als mustergültiger Universalist, der sich sogar über die Autorität Gottes hinwegsetzt. Gegen diese alles überwölbende Pointe von Boehms oft erratischem, aber auch leidenschaftlich klar formulierten Essay ließe sich vielerlei einwenden, vor allem aber: Braucht es für Abrahams Ablassen von seinem Sohn tatsächlich etwas anderes als menschliche Maßstäbe?

Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen Verlag, Berlin 2022. 175 Seiten, 22 €.

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