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Tod und Auferstehung. Andrea Peñas Tanzstück „Bogotá“ spielt zwischen Baugerüsten und Plastiksäcken

© La Biennale di Venezia/Andrea Avezzù

Mit dem Körper denken: Die Biennale Danza in Venedig

Der Goldene Löwe geht an die 88-jährige Tanzschöpferin Simone Forti - eine US-Amerikanerin mit italienischen Wurzeln

Von Sandra Luzina

Seile hängen von der Decke, eine Holzrampe steht vor einer unverputzten Wand des Sala d’Armi, einem der vielen Säle auf dem Gelände des Arsenale in Venedig. Die alltäglichen Objekte sind Teil der Ausstellung zu „Simone Forti“, einer Kollaboration zwischen dem Museum of Contemporary Art, Los Angeles (MOCA) und der Biennale in Venedig.

Die Biennale Danza, das alljährlich stattfindende Tanzfestival der venezianischen Biennale, hat die US-amerikanische Künstlerin und Choreografin, mit dem Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Selten war die Eröffnung so bewegend wie in diesem Jahr. Die 88-jährige Forti konnte nicht selbst nach Venedig kommen, da sie an Parkinson erkrankt ist. Doch sie war aus Los Angeles online zugeschaltet, und obwohl ihr das Sprechen schwerfällt, hielt sie eine kurze Rede. Sie mache sich zwar nichts aus Auszeichnungen, hatte sie zuvor in einem Video erklärt, doch zeichnete dann mit den Fingern die Konturen des Goldenen Löwen nach, was fast wie ein Tanz aussah.

Wayne McGregor, der künstlerische Leiter der Biennale Danza, machte deutlich, warum Forti eine prägende Figur des postmodernen Tanzes ist: „Forti, die sich selbst als Künstlerin oder Bewegungskünstlerin definiert und nicht an die Konventionen und Orthodoxien des ,Choreographen’ gebunden ist, bewegt sich frei und nahtlos zwischen den kreativen Welten, mischt wild die Disziplinen und setzt sich dabei für das Primat des Körpers ein, oder vielmehr für das ,Denken mit dem Körper’ als Kraft für Experimente, Spiel und (Neu-)Erfindung.“ Die Tanzschöpferin ist eine würdige Preisträgerin, was auch mit ihrer Biografie zu tun hat: Geboren wurde sie 1935 in Florenz. Ihre jüdische Familie emigrierte 1938 in die USA, um der faschistischen und antisemitischen Verfolgung zu entgehen.

Die Ausstellung beleuchtet die 60-jährige Karriere dieser visionären Künstlerin, die mit verschiedenen Medien arbeitete. Die Fotos und Videos fangen den Geist der wilden 1960er Jahre ein, als Forti zur experimentellen Downtown-Szene in New York gehörte. Aber auch in späteren Jahren verlangte Forti ihrem Körper einiges ab. Bewegung ist für sie ein Medium, um die Welt zu begreifen - und um sich ihrer selbst zu vergewissern.

Verschworen im Körperknäuel

Bahnbrechend waren die „Dance Constructions“, die Forti 1961 im New Yorker Loft von Yoko Ono zeigte. Drei dieser Performances wurden von den jungen Tänzern und Tänzerinnen des Biennale College Danza. „Huddle“ ist das bekannteste dieser Werke. Sieben Tänzer stehen Kreis, sie legen einander die Arme um die Schultern, beugen sich vor und bilden einen Haufen. Immer wieder löst sich einer der Perfomer aus dem Körperknäuel und klettert nach oben; kurz balanciert er auf dem Rücken der anderen, um sich danach wieder einzugliedern in die Struktur. Die Performance, die auf klaren Anleitungen basiert, sieht bei jeder neuen Gruppe anders aus. Forti selber hat erzählt, dass das Stück heute sanfter ausgeführt wird als bei seiner Entstehung. Auch die jungen College-Tänzer gehen äußerst behutsam vor. Hier hat man nicht den Eindruck, dass der Aufsteiger die anderen unterdrückt, um an die Spitze zu gelangen.

Es geht um Stützen und Unterstützen, das Bündeln der Kräfte. Dieser Zusammenhalt, den die Performer mit unterschiedlichen Background immer wieder aufs Neue herstellen, wirkt wie ein Hoffnungszeichen. In den Performances „Slant Board“ und „Hangers“ kommen dann die Holzschräge und Seile zum Einsatz. Sie sind ausgesprochen physische Aktionen und zugleich soziale Skulpturen. Die konzeptuelle Strenge verbindet sich bei Simone Forti immer mit der Lust am Improvisieren Deswegen wirken die Arbeiten heute noch so frisch.

Auch ein Ballettstar kam diesmal nach Venedig. Carlos Acosta, der lange mit dem Royal Ballet in London tanzte, stellte seine Kompanie Acosta Danza vor, die er 2015 in seiner Heimat Kuba gegründet hat. Das vierteilige Programm „Ajiaco“ war maßgeschneidert, um das vielseitige Können der jungen Tänzer zu demonstrieren.

Ein Faun praktiziert Yoga

Für das Duett „Faun“ kontrastiert der belgische Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui die betörende Musk von Debussys „L’aprés-midi d’un faune“ mit einer zeitgenössischen Komposition von Nitin Sawhney, die von indischen Ragas inspiriert ist. Der legendäre Tänzer Nijinsky erregte 1912 noch Anstoß als Faun - zu gewagt waren die sexuellen Anspielungen. Mit schwülem Orientalismus hat Cherkaoui nichts im Sinn. Sein Faun sieht vielmehr so aus, als würde er Yoga praktizieren. An der Nymphe ist er nicht sonderlich interessiert, er erfreut sich vielmehr an den geschmeidigen Bewegungen seines eigenen Körpers.

Der Choreograf Javier de Frutos zeigte mit „98 Días“ eine Hommage an Federico García Lorca. Der spanische Dramatiker und Poet hatte 1930 drei Monate auf Kuba verbracht – es waren die glücklichsten Tage seines Lebens. Ein einziges Gedicht schrieb er auf der Insel, die ihm wie ein Paradies erschien: „Son de negros en Cuba“.

Wenn eine Stimme vom Band den Text vorträgt, wirkt es, als ob das Poem gerade erst verfertigt wird. Mit schwingenden Armen bewegen die Tänzer sich vorwärts. Aus Zweier- und Dreiergruppen komponiert de Frutos geometrische Tableaus. Fesselnd sind vor allem die Männer-Duette, die, auch wenn sie einen spielerischen Kampf zeigen, immer von Anziehung erzählen.

Für die Kubaner ist Tanzen vor allem Ausdruck von Lebensfreude – das zeigt Alexis Fernández in „De Punta a Cabo“. Eine verwüstete Landschaft zeigt dagegen Andrea Peña in dem preisgekrönten Stück „Bogotá“. Die fast nackten Tänzer winden und krümmen und sich zwischen Baugerüsten und Plastiksäcken. Das Stück, sehr roh in seiner Bewegungssprache, kreist um Tod und Auferstehung. Immer wieder werden die geschundenen Körper emporgehoben und gehalten. Interessant ist, wie Andrea Peña die religiösen Bildmotive umdeutet und sich auch auf Statuen indigener Gottheiten bezieht. „Bogotá“ war das radikalste Stück des Eröffnungswochenendes: ein Martyrium ohne Aussicht auf Erlösung.

Der Brite Wayne McGregor, der seit drei Jahren die Tanzsparte leitet, hat die Biennale geöffnet für nichtwestliche Tanzformen. Mit dem Silbernen Löwen wird in diesem Jahr das Tao Dance Theater aus Peking ausgezeichnet. Auch das ist eine gute Wahl. Die Stücke von Tao Ye und Duan Ni faszinieren durch ihre nüchterne, reine Tanzästhetik. Zum Finale zeigt das Tao Dance Theater am 28. und 29. Juli als europäische Erstaufführung drei choreografische Werke, die die Reihe der Numerical Series fortsetzen, mit der sie auf der internationalen Szene bekannt wurden.

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