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Kultur in Potsdam: Zwischen Ziegen und Deich

Das Theater am Rand bietet seit 20 Jahren Kultur am entlegensten Winkel des Landes

Die Suche nach einem Geburtstagsgeschenk führt über die „Sachsenklinik“ geradewegs zur Zollbrücke an die Oder. Meine Mutter hält seit Jahren der nimmer endenden Leipziger Arztserie „In aller Freundschaft“ die Treue, in der Thomas Rühmann als Doktor Heilmann alle Patienten genesen lässt. Ursula Karusseit – die gute Seele der Heilmanns – mag sie ganz besonders. Schon seit die junge Karusseit in der DDR-Serie „Wege übers Land“ den Frauen auf der Nachkriegsflucht so ergreifend Gestalt gab. Also reift die Idee, ihr Ursula Karusseit live zu präsentieren. Die Reise geht bis an die Grenze des Brandenburger Ostens, flussbreit von Polen entfernt: ins Theater am Rand.

Unvergessen ist die Anfahrt in das flache Land, über das der Himmel immer tiefer fällt, die Luft irgendwie nach Ostsee schmeckt. Und plötzlich, da wo es nicht mehr weitergeht, der Fluss die Fahrt beendet: Genau an diesem entlegensten Winkel werden Busladungen von Menschen ausgeschüttet. Mitten hinein in dieses Theater im Nirgendwo, das in stiller Eintracht in das Reich der Natur eingewachsen scheint. Dicht gedrängt sitzen wenig später Zuschauer aller Generationen mit Krückstock oder Fahrradhelm auf den rustikalen Holzbänken unter dem selbstgezimmerten Dach, auf dem auch Blümchen wachsen. Die Luken sind weit geöffnet. Die Natur flutet in den Bühnenraum. Die Besucher schauen auf einen alten Kahn, der hier auf der Wiese gestrandet ist. Plötzlich tauchen vier Gestalten auf, kommen unter breiten Hutkrempen vom angrenzenden Feld auf das Theater zugelaufen, wie im Wilden Westen. Gespielt wird das Stück „Mitten in Amerika“, das nunmehr im Oderbruch verortet ist.

Auch in diesem Sommer steht Annie Proulx’ bitterböse Geschichte um Wasser, Öl, Windräder und Schweinefarmen auf dem Spielplan. Inzwischen nicht mehr mit Ursula Karusseit. Die 79-Jährige muss mit ihren Kräften haushalten, kommt aber immer noch als Gastspielende vorbei, in diesen rustikalen Tiegel, in dem Sprache und Musik, Bilder und Klänge, Worte und Noten mit Menschengeschichten verschmelzen. Es ist längst kein Geheimtipp mehr, das vor 20 Jahren von Thomas Rühmann und Tobias Morgenstern gegründete Theater. Wer einmal da war, kommt wieder. Bei meinem letzten Besuch erlebte ich hier das Neue Globe Theater aus Potsdam, das sich in der Ferne noch einmal ganz anders anschaut als zu Hause im T-Werk oder zu den Schirrhofnächten in der Schiffbauergasse, die gerade wieder einladen. Im Theater am Rand mit nunmehr runtergeklappten Seitenteilen ist es ganz intim. Und natürlich geben am Ende alle mit Freude den Taler ihres Zuschauerglücks. Denn es gibt keinen festen Eintritt, sondern „Austritt“: Jeder Zuschauer entscheidet nach der Aufführung selbst, was ihm der Theaterabend wert war.

Die Idee ist aufgegangen: zu dieser Erfolgsgeschichte kurz vorm Deich, die einst im Wohnzimmer von Tobias Morgenstern begann. Der Komponist und Akkordeonist, der schon mit Gerhard Schöne, Bettina Wegner, Reinhard Mey oder Rio Reiser arbeitete, hatte sich noch zu DDR-Zeiten ein Fachwerkhaus in dem 20-Seelen-Dorf gekauft. Ausspannen, auftanken. Das wollte er in dieser Abgeschiedenheit. Und plötzlich brach er zu neuen Ufern auf: hier am heimischen Kachelofen. „Accordion Mystery“ nach Annie Proulx wollte er spielen. Doch es gab keine Aufführungsrechte. „Wir spielen das hier bei mir im Wohnzimmer“, sagte Morgenstern. „Hier merkt’s keiner“, antwortete Rühmann. So begann es. Mit kleinen Aufführungen, zu denen immer mehr Leute kamen. Erst nur Einheimische und Freunde, dann die Freunde der Freunde. Bald waren es an die 80 Gäste, die Luft wurde dünn. Also ging es raus in den Garten. Ein neues Theater begann zu wachsen: windschief, unter einem großen Obstbaum. Morgenstern und Rühmann, die singenden Schauspieler und Musikanten aus Sachsen, versuchten sich als Handwerker im Oderbruch. Stück für Stück, immer weiter. Mit viel Lehm, viel Holz. Ohne rechte Winkel, ein bisschen so verrückt wie Hundertwasser. Den Arztkittel hängt Thomas Rühmann für dieses Herzensprojekt immer wieder an den Nagel.

Inzwischen bietet ihre Arche 200 Gästen Platz. Anfangs gab es in den Pausen Schmalzstullen, seit zwei Jahren die „Randwirtschaft“: eine Bar, ein Restaurant, eine Klause. Für die Zuschauer und Akteure. Essen, trinken, sitzen, fabulieren. Vorher, in der Pause, nachher. Nebenan weidet Bauer Rubin seine Ziegen, die nur so staunen, wenn das Dorf am Wochenende förmlich überläuft.

Hier draußen gibt es nichts außer unendliche Weite, hitzegeplagten Feldern, einer holprigen Straße und dem Schild: Sackgasse. Und genau hier erzählen sie ihre Geschichten. In dieser verwinkelten Hütte aus Baumstämmen, die aussieht wie ein Ufo und von dem aus der Ferne nur ein Turm silbern glänzt, wie der abgetragene, doch schillernde Hut eines Vaganten. Mit seinen 13 Metern ist er der höchste Punkt im flachen Land. Nicht nur ein Hingucker, sondern auch nützlich gegen kalte Füße. Denn nicht nur jetzt, im heißen Sommer, wird gespielt. Auch im Winter kommen die Gäste angereist. Dann dient der Turm als Wärmespeicher und leitet die Energie über dicke Rohre in den Theaterraum, der dann bis zu zehn Grad wärmer wird.

Jetzt aber gibt es jede Menge Frischluft, werden drei Wände der Theaterarena komplett geöffnet. Der Blick in die Weite der Landschaft ist frei. Auf die Eroberer „Mitten in Amerika“ hier im Oderbruch. Mit Sonnenuntergang zum Wegträumen.

In unserer Serie stellen wir Orte der Mark vor. Kommenden Donnerstag geht es zur Fläming-Bibliothek im Rasthof Moritz in Rädigke

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