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Kultur in Potsdam: Was ist das, Heimat?

Noriko Seki vom Theater Nadi schreibt in ihrem neuen Stück „Briefe nach Hause“

Potsdam - Als Noriko Seki nach Brandenburg kam, dachte sie, es sei für ein Jahr, vielleicht auch zwei. In Indien hatte die studierte Indologin das Wandertheater Ton & Kirschen kennengelernt, und dieses ferne Brandenburg, in dem die Theaterleute zu Hause waren, schien ein guter Ort zu sein. Ihr Herkunftsland, Japan, hatte sie lange schon verlassen. Warum also nicht Brandenburg? So kam Noriko Seki mit ihrer damals kleinen Tochter nach Glindow. Sie half in der Organisation von Ton & Kirschen, lernte Akkordeonspielen, und irgendwann stand sie auch mit auf der Bühne.

Jetzt ist die Tochter fast 20, hat seit wenigen Tagen einen deutschen Pass, und Noriko Seki lebt noch immer in Brandenburg – in Potsdam. Hier gründete sie 2002 gemeinsam mit dem Pantomime-Künstler Steffen Findeisen, eine Begegnung aus der Ton&Kirschen-Zeit, ihre eigene Theatergruppe: Theater Nadi. Nadi heißt Fluss, auf Sanskrit. Ein Name, der sich einprägt, auch wenn man seine Bedeutung nicht kennt. Theater Nadi, das steht für bildmächtiges, poetisches Theater, das nicht viele Worte braucht, um seine Geschichten zu erzählen. Darunter seit 2011 viele Märchen, und viel Märchenhaftes: „Die Regentrude und der Feuermann“, „Alice im Wunderland“, „Der Fischer und die Lotusfee“, aber auch das Maskenspiel „Die wilde Jagd“.

15 Jahre nach der ersten Inszenierung scheint das Theater mit seiner neuen Produktion jetzt dabei zu sein, sich neu zu erfinden. Zum ersten Mal steht Noriko Seki allein auf der Bühne. Zum ersten Mal erzählt sie keine Märchen, nichts Erdachtes, sondern von sich. „Briefe nach Hause“ heißt die neue Arbeit, die heute Abend im T-Werk Premiere feiert.

Nach Hause? Fragt man Noriko Seki, was das für sie ist, dann ist die Antwort für jemanden, der seit 20 Jahren durch die Welt reist, erstaunlich einfach. „Osaka.“ In Osaka wurde Noriko Seki geboren. Sie verließ die Stadt 1996, ein Jahr nach dem großen Erdbeben in Kansai, in der Nähe von Osaka. Über 4000 Menschen starben, Hundertausende wurden obdachlos. Damals war sie schon viel auf Reisen unterwegs, hatte nur zufällig drei Monate zuhause bei ihrer Familie verbracht. Die Familie blieb unbeschadet, aber nicht der Antiquitätenladen ihrer Mutter. Fast alles wurde zerstört. Ein Einschnitt.

Noriko Seki weiß, dass das Osaka ihrer Kindheit vor allem im eigenen Kopf besteht: Jedes Mal, wenn sie zurückkehrt, hat sich etwas verändert. Im Grunde ist sie in ihrer Heimat nur so etwas wie eine Touristin. Vielleicht daher die „Briefe“ im Titel der neuen Arbeit.

Warum aber gerade jetzt die Rückbesinnung auf den Ort der Herkunft? Die genaueste Auskunft darüber gibt der japanische Begriff, der dem deutschen Titel vorangestellt ist. „Kyo Shu, das heißt Heimweh“, sagt Noriko Seki. Wobei es wörtlich auch mit „Herbstschmerz“ übersetzt werden kann, wie sie später erklärt. „Das passt auf mehreren Ebenen.“ Bevor sie mit der neuen Arbeit begann, verstarb ihr Vater, ein Mensch, dem sie sehr nahe war. Damals wusste sie, sie würde etwas anders machen müssen in ihrem Leben. Sie begann mit einem neuen Stück, ihrem persönlichsten.

Verschiedenste Elemente ihrer Biografie werden hier zusammengeführt. Es wird um Osaka gehen, um Kansai, um ihren Vater – indirekt. Konkrete Grundlage für den Abend war die Auseinandersetzung mit einem Buch der amerikanischen Psychoanalytikerin Clarissa Pinkola Estés: „Der Tanz der großen Mutter“. Ein Buch über das Älterwerden und die Frage, wie Frauen damit umgehen. Zunächst sollte das neue Stück sogar den Titel des Buches tragen, aber dann schien ihr das zu esoterisch. „Briefe nach Hause“, die Idee kam von ihrer Tochter, am Mittagstisch. „Es passte einfach“, sagt Noriko Seki.

„Briefe nach Hause“ wird also ein Stück über sie sein, Noriko Seki – und doch auch nicht. Denn ihr Thema ist viel größer, viel grundlegender als die Biografie einer Einzelnen, sagt sie. „Eigentlich geht es um das Hier. Darum, wie wichtig es ist, im Hier und Jetzt zu leben.“ Keine Gedanken an den nächsten Termin, die eben geprobte Szene, künftige To-do-Listen. Sondern: Da-Sein. Darum geht es ihr.

Und es wird um das Lachen gehen. Zum ersten Mal arbeitete sie 2011 in „Die wilde Jagd“ mit Clowns zusammen, eine große Entdeckung. „Clowns, die sind meine Welt“, sagt sie heute. Neben der Arbeit für das Theater Nadi ist Noriko Seki in sozialen Einrichtungen unterwegs, arbeitet mit alten und kranken Menschen. „Aber ich mache das gar nicht aus einem sozialen Impuls heraus, um mit Alten und Kranken zu arbeiten – sondern eigentlich nur für mich.“ Der unmittelbare Kontakt mit den Menschen, der zustande kommt, wenn sie ihre Clownsnase aufhat, ist unbezahlbar, sagt sie. Dieses Lachen, das nicht nur ein Lächeln ist, eine Maske, sondern ganz tief durch den Körper geht, dafür spielt sie. L. Schneider

Theater Nadi, „Kyo Shu – Briefe nach Hause“, Premiere heute um 20 Uhr im T-Werk, weitere Aufführung dort morgen um 20 Uhr sowie am 30.9. um 19 Uhr in der Großen Jurte im Volkspark Potsdam

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