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Kultur: Kollaps am Kreuzweg

Isabelle Van Grimde lässt Musiker und Tänzer miteinander improvisieren

Wenn ein Dorf in Simbabwe einen Konflikt zu lösen hat, tanzen sich die Bewohner zu den Klängen der Mbira, des afrikanischen Daumenklaviers, in Trance, um so ihre Ahnen anzurufen. Die wie Regen auf Blech und hohles Holz trommelnden Klänge eröffneten am Samstagabend in der fabrik das Tanzexperiment „Les Chemins de Traverse – Kreuzwege“, in dem Musik und Bewegung, frei improvisiert, sich gegenseitig inspirierten. Die stilistischen Spielregeln – für jede Art von Improvisation unerlässlich – haben die kanadische Choreographin Isabelle Van Grimde, derzeit Artist in Residence in der fabrik, und der Komponist Thom Gossage aufgestellt: ein Repertoire an Bewegungselementen sowie verschiedene Konstellationen, in denen die drei Tänzerinnen zueinander und zum Raum treten sollen, dazu ein musikalisches Gerüst, das die Szenerie zusammenhält. Die Musiker an Kontrabass (Miles Perkin), Schlagzeug (Thom Gossage) und Elekronics (Marie-Hélène Fournier) sind in den Ecken der in kleinere Quadrate aufgegliederten Tanzfläche positioniert, sodass sie diagonal miteinander kommunizieren und dabei zwangsläufig die Wege der Tänzerinnen kreuzen müssen.

Die Kanadierinnen Erin Flynn und Ceinwen Gobert aus Van Grimdes Company „Corps Secrets“ treffen hier in der fabrik auf die deutsche Tänzerin Berit Jentzsch. Zu Beginn des Stückes noch die Nähe der Musiker suchend, werden die drei Frauen vom anschwellenden Rhythmus mehr und mehr in die Mitte des Feldes und zu immer schnelleren, mechanischen Bewegungen getrieben. Jede bleibt für sich allein und funktioniert auf ihrer eigenen Bahn, die von unten mit kaltem weißem Licht vorgezeichnet ist. Das Gemisch aus elektronischem Rauschen, entfesselter Perkussion und kreischend hohen Basstönen wirkt bedrohlich. Immer weiter steigern die Tänzerinnen ihr Tempo, die Möglichkeit des Zusammenbruchs scheinbar ignorierend. Man wähnt sich auf einer Kreuzung inmitten des Großstadtgetriebes, gehetzt vom Verkehr, unter Strom gesetzt vom elektrischen Sirren, fast taub vom Straßenlärm und erbärmlich allein. Kreuzwege, an denen man sich wünscht, dass doch alles ein wenig langsamer, leiser – nach menschlichem Maß verlaufen soll.

Wie nach einem Kollaps tritt plötzlich Ruhe ein. Die Frauen liegen keuchend am Boden. Das Publikum, das wie in einer Arena von allen Seiten zugeschaut hat, sieht den Schweiß auf ihren Rücken glänzen. Leises Knistern kriecht aus den Boxen. Der Schlagzeuger reibt zerknüllte Plastiktüten aneinander. Der Bassist zieht gedankenverloren den Bogen über das Griffbrett. Und während die Tänzerinnen ihre Glieder sortieren, nehmen sie zum ersten Mal Notiz voneinander. Als das Geräuschgewitter dann erneut losbricht, gehen sie souveräner, selbstbestimmter damit um. Ihre Bewegungen sind weicher, runder. Sie beginnen zu tanzen und es scheint, als würden sie dem Schlagzeug ihren eigenen, einen menschlichen Rhythmus, abverlangen. Endlich können sie sich ausdrücken, frei, ungezwungen, lustvoll. Das Licht wechselt in warmes Rot. Immer öfter kreuzen sich die Wege der Frauen. Sie treten in Kontakt und improvisieren, wie in der Musik, im Wechselspiel von Frage und Antwort.

Sphärisch dunkle Klänge geben ihnen erneut Zeit, sich selbst und die anderen zu erkunden. Die flache Hand wandert über die Konturen des eigenen Körpers, vom Halswirbel über den Kopf bis hinunter zu den Füßen. Als die anfangs noch zitternden Hände der einen Tänzerin auf dem Körper der anderen zum Liegen kommen, zieht friedvolle Ruhe ein. Der Konflikt ist gelöst.

So wie die afrikanische Zeremonie wird sich auch Isabell Van Grimdes Stück in dieser konkreten Ausformung niemals wiederholen lassen. Es bleibt ein Unikat, geschaffen aus der momentanen Verfasstheit der beteiligten Künstler. Allein die Versuchsanordnung und die stilistischen Vorgaben haben Bestand. Nach ihnen können sich die Wege von Musikern und Tänzern hier und andernorts immer wieder neu kreuzen.

Eine weitere Variante der „Chemins de Traverse“ ist am 28. Oktober um 20.30 Uhr in der fabrik zu erleben.

Antje Horn-Conrad

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