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Starke Gefühle, starke Schauspieler, starkes Spiel. Melanie Straub als Doralice und Christoph Hohmann als Geheimrat Knospelius in „Wellen“, eine der herausragendsten Inszenierungen der aktuellen Spielzeit am Hans Otto Theater.

©  HL Böhme

Interview mit Tobias Wellemeyer: „Entwickeln, ohne uns zu verlieren“

Tobias Wellemeyer, Intendant des Hans Otto Theaters über den Wandel Potsdams, künstlerische Haltung, Selbstoptimierung und die Inszenierungen der kommenden Spielzeit.

Herr Wellemeyer, haben die Jahre in Potsdam Sie als Theatermacher verändert, vielleicht sogar gewandelt?

Potsdam war in den ersten beiden Spielzeiten eine große Herausforderung. Ich war darauf vorbereitet, dass die Aufgabe hier, in der Nähe zu Berlin und bei der Vielfalt an künstlerischen Positionen und Angeboten, interessant, aber nicht leicht werden würde. Hinzu kam der bis heute andauernde Wandlungsprozess von einer regionalen hin zu einer viel stärker geöffneten Stadt, in dem es zu Spannungen zwischen Tradition und neuen Ansichten kommt. Auch was Deutungshoheiten in der Kunst betrifft. Wir haben uns dort hineinbewegt und waren am Anfang in unserem Anbieten, Ausprobieren, Senden und Empfangen auch durchaus verwundbar. In dieser Zeit ist das Ensemble sehr zusammengewachsen und für mich sehr wichtig geworden, weil wir uns regelmäßig mit diesen Prozessen auseinandergesetzt und versucht haben, sie für uns zu beschreiben und zu bewerten. Dabei haben wir uns entwickelt, ohne aber uns zu verlieren.

Tobias Wellemeyer

, geb. 1961 in Dresden, studierte Theaterwissenschaft in Leipzig. Seit Sommer 2009 ist Wellemeyer Intendant und Regisseur am Hans Otto Theater.

Was meinen Sie mit entwickeln, ohne sich zu verlieren?

Die Frage ist doch, ob man mit seinen Entscheidungen an Haltung verliert oder sie schärft. Ich denke, mit unserer Programmgestaltung und in der Zusammenarbeit mit den Künstlern haben wir uns verändert und es gleichzeitig geschafft, unsere Haltungen zu profilieren. Dadurch bereitet mir diese Herausforderung hier in Potsdam großen Spaß.

Hat die Freude an der Herausforderung für Sie auch den Ausschlag gegeben, Ihren Vertrag als Intendant am Hans Otto Theater bis 2018 zu verlängern?

Ja, auf jeden Fall.

Um Geschichten von Wandel und Umkehr, von biografischen Wendepunkten und Lebensentscheidungen drehen sich die Inszenierungen der Spielzeit 2013/2014, die Sie am heutigen Dienstag vorgestellt haben. Was gab den Ausschlag für diesen Themenschwerpunkt?

Das Nachdenken beginnt nicht mit einer These. Das Konzept, nach dem unsere Regisseure und Dramaturgen ein Programm mit Stücken gestalten, resultiert aus großen Sammlungen an Material, aus literarischen Erfahrungen und einer großen Wachheit für soziale Wandlungen, auch aus Büchern zur Theorie von Gesellschaft. Derzeit sind wir zum Beispiel von Byung-Chul Han und seinen Büchern „Müdigkeitsgesellschaft“ oder „Transparenzgesellschaft“ inspiriert. Kleine Essays zur kulturellen Verfasstheit unserer Tage. Texte, bei denen wir das Gefühl haben, sie eröffnen interessante Zusammenhänge, hinter denen auch Theatergeschichten erkennbar werden. Wenn wir dann einen Spielplan zusammengestellt haben, stellen wir fest, dass ein Blick auf Gegenwart darin enthalten ist, eine Tendenz, ein Zeitgeist.

Und die derzeitige Tendenz sehen Sie im Wandel?

Wandel im Sinne des Ausbrechens aus Mustern, in denen man befangen ist. Unsere Leistungsgesellschaft stellt extreme Herausforderungen an den Einzelnen. Wir brauchen gar keine Zurichtungen von außen mehr, wir richten uns selber zu. Wir „optimieren uns selbst“ und grenzen damit alles Nicht-Effiziente in unserem Charakter aus, damit auch alles Widersprüchliche, Geheimnisvolle, Nicht-Glatte, das uns innerlich in Bewegung hält und auch neugierig aufeinander macht. Eine Falle, in die wir geraten sind.

Der Dirigent Daniel Daréus in „Wie im Himmel“, mit dem Sie Ende September die neue Spielzeit eröffnen werden, ist in diese Falle geraten. Er erleidet auf der Bühne ein Herzinfarkt und kehrt in sein Heimatdorf zurück, ausgerechnet in seine Vergangenheit.

Dieser Mann kehrt um. Nach einem Zusammenbruch ist seine Leistungskarriere beendet. Er kehrt in das Dorf seiner Kindheit zurück und lernt das Hören neu. Wie der Schnee fällt. Wie die Stille klingt. Er entdeckt jetzt eine ganz andere Geschwindigkeit für sich und lernt aus diesem Wandel, wieder zu leben, kreativ zu sein und seine Energie an andere weiterzugeben.

Also das Aufzeigen von anderen Lebensentwürfen, Lebensmöglichkeiten?

Es geht um Figuren, die es wagen, aus der Totalität ihrer Gegenwart und dem Hamsterrad der Effizienz auszubrechen und in eine andere Zeitwahrnehmung hinüberzuwechseln. Damit riskieren sie sich selbst. In unseren Geschichten müssen sie nun die Frage beantworten, ob sie es schaffen, ob sie es durchhalten oder ob sie an der Logik der Gegenwart, an den Zwängen der Zeit und ihren Zweifeln scheitern werden. Der „Urfaust“ von Goethe lässt sich so interpretieren, den wir im Januar auf die Bühne bringen. Auch „Orpheus steigt herab“ von Tennessee Williams oder „Die Opferung von Gorge Mastromas“ von Dennis Kelly, wo die Figur radikal in die Gegenrichtung wechselt, in die Kälte und Rücksichtslosigkeit.

Im Februar kommt „Kirschgarten – Die Rückkehr“ von John von Düffel zur Aufführung. Ein Weitererzählen von Tschechows berühmten Stück. Hilft heute manchmal nur noch der Versuch, das Schöne aus der Vergangenheit zu beschwören?

John von Düffel möchte den Versuch einer Wiederherstellung beschreiben. So viel weiß ich bisher über das Stück, das ja noch im Entstehen ist. Er hat den Kirschgarten in unsere Zeit geholt, lässt eine Urenkelin aus Amerika zurückkehren mit dem Ziel, den Garten zurückzukaufen und ihm eine neue Zukunft zu geben. Das führt zu Widerständen, denn der Kirschgarten hat Vergangenheiten und Wirklichkeiten angesammelt, von denen sie nichts ahnte. Es geht hier auch um die Frage, ob man Zukunft aus einer Sehnsucht nach Vergangenem konstituieren darf.

Ein erster Blick in das neue Programmheft zeigt, dass in den geplanten Inszenierungen der Mensch häufig scheitert. Und wenn Theater immer auch Gegenwart spiegelt, heißt das dann, dass der Mensch ein Verlorener ist?

Unsere Mitte ist nicht stabil. Letztendlich verändern wir uns ständig. Aber in der modernen Gegenwart, nennen wir sie „Müdigkeitsgesellschaft“, sehe ich so viele Situationen, in denen wir unser „inneres Konto“ überziehen und über unsere Kraftverhältnisse leben. Und diese Überziehung sucht uns heim und kann verheerende Folgen haben, nicht nur für uns selbst.

Aber es ist doch die große Kunst des Theaters, solche Themen nicht einfach nur zu erzählen, sondern auch zu verhandeln. Wird es in unserer Zeit immer schwieriger, mit solchen Themen ein Publikum zu erreichen?

Unsere Gesellschaft differenziert sich immer stärker aus, hinsichtlich der Biografien und persönlichen Perspektiven, der Erwartungen und Glücksvorstellungen. Kein Kino zeigt heute nur noch einen neuen Film in der Woche. Es ist praktisch nicht mehr möglich, „die“ Öffentlichkeit am Abend auf einen Film, ein Theaterstück, ein Thema zu vereinen. Unter diesen Bedingungen die Quote zum Qualitätsmaßstab zu machen, ist verrückt. Dennoch gibt es einfach existentielle Themen, die in das Zentrum unserer Selbstreflexion gehören, und genau da spielt das Theater seine Stärken aus. Das Wunderbare am Theater ist ja die Unmittelbarkeit und die Öffentlichkeit des Erlebens. Alles findet im Augenblick, in der Begegnung statt. Immer wieder erleben wir, dass unser Publikum nach dieser Kraftübertragung sucht. Für unsere Arbeit wird es wichtig sein, diese Erfahrungen weiterzuerzählen und zu vermitteln, sichtbar zu sein. Dabei brauchen wir natürlich unsere vielen Freunde, Fans und Besucher.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Die neue Spielzeit:

19 Neuproduktionen, davon 13 im Abendspielplan, sechs im Kinder- und Jugendtheater und ein Open Air sind in der Spielzeit 2013/2014 im Hans Otto Theater zu erleben, wie Theaterintendant Tobias Wellemeyer am gestrigen Dienstag bei der Vorstellung des neuen Spielzeitheftes sagte. Eröffnet wird die neue Theatersaison mit „Wie im Himmel“ am 27. September. Eine Art Voreröffnung ist das große Theaterfest am 31. August, zu dem im vergangenen Jahr 3500 Besucher kamen. Zu den Neuinszenierungen gehören unter anderem das Musical „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ von Jeffrey Lane und David Yabzek, Peter Handkes „Kaspar“, Shakespeares „Was ihr wollt“ und als Sommer-Open-Air „Ladies Night“ von Stephen Sinclair und Anthony McCarten. Juliane Götz wird das Ensemble zum Ende dieser Spielzeit verlassen. Zur neuen Spielzeit wird nach zwei Jahren in Köln Holger Bülow wieder festes Ensemblemitglied. Neu am Hans Otto Theater ist Zora Klostermann. Insgesam 109 000 Besucher zählte das Hans Otto Theater im Jahr 2012.

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