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Mit neuer Sicht. Ud Joffe versteht Musik nicht als fertiges Produkt, sondern stellt immer auch einen persönlichen Bezug her, um aus diesem heraus die Wiedergabe zu erarbeiten.

© Sebastian Gabsch

Kultur: Hendrix und Bach

Morgen feiert Ud Joffe 20 Jahre Musik an der Erlöserkirche – und seinen 50. Geburtstag

An seine Ankunft in Potsdam im Jahr 1997 erinnert sich Ud Joffe so: Vom alten Hauptbahnhof ging man auf einem schmalen Holzbohlenpfad hinauf zur Langen Brücke. Oben, so Joffe, war irgendwie immer eine große Pfütze. Aber dann habe man vor einem besonderen Panorama gestanden, FH-Gebäude, Nikolaikirche, Marstall. Und ganz vorn am rechten Rand die Blechbüchse. „Ich mochte das sehr, das hatte schon was“, sagt Joffe bei einem Treffen im Café des Museums Barberini, das heute etwa an der Stelle jenes Theaterprovisoriums steht.

20 Jahre später hat sich nicht nur dieses Panorama verändert. Auch Joffe. „In Potsdam habe ich angefangen, über Judentum und Christentum nachzudenken und über meine Rolle darin.“ Denn als Jude und künstlerischer Leiter der Musik an der Erlöserkirche stand das Thema von Anbeginn im Raum. Und Joffe hat es quasi kreativ bei den Hörnern gepackt. Es hat seiner Arbeit in Potsdam gut getan. Es hat ihr einen ganz besonderen Charakter verliehen – nicht vordergründig, aber doch prägend.

Der erste große Anlass war das Jubiläum 100 Jahre Erlöserkirche. Joffes Vorgänger Friedrich Meinel hatte Mendelssohn-Bartholdys „Paulus“ für das Programm ausgesucht und als Aufgabe hinterlassen. „Ich bin da ein bisschen hineingedrängt worden“, sagt Joffe. Er habe sich dann fragen müssen: „Was ist das für ein Stück, was hat das mit mir zu tun und wie gehe ich jetzt damit um?“ Das ist Joffes Arbeitsweise: Musik nicht als fertiges Produkt zu verstehen, sondern immer auch einen persönlichen Bezug herzustellen und aus diesem heraus die Wiedergabe zu erarbeiten. Chor und Orchestermitglieder schätzen, dass er eine neue Sicht mitgebracht hat. Dass er Gewohntes hinterfragt, neue Zusammenhänge entdeckt: „Was meint Bach mit dieser oder jener Textzeile? Wie muss man das singen? Wie wollen wir das singen?“

Die zahlreichen Konzerte, Choraufführungen und Sonderprodukte, an denen sowohl Kammerorchester als auch Kantorei beteiligt sind, sowie nicht zuletzt das von Joffe gegründete Festival Vocalise für Vokalmusik ziehen längst nicht mehr nur Besucher aus Potsdam an. Musik an der Erlöserkirche ist eine Marke, die Joffe entscheidend mitgestaltet hat – seit dem 17. Oktober 1997. Der Tag, an dem er seinen ersten Honorarvertrag in Potsdam unterschreibt, ist auch sein Geburtstag. „Ich glaube, ich bin damals mit einem Kuchen nach Potsdam gekommen.“

Geboren wird Joffe am 17. Oktober 1967 in Israel, in einer Stadt bei Tel Aviv. Die Wurzeln der Familie liegen im Jemen, in Georgien und im deutsch-geprägten Lettland. „Ich wuchs auf mit Borschtsch und Schnitzel“, sagt Joffe. Als Jugendlicher prägt ihn die 70er-Jahre Mentalität Israels. Die an vielen Stellen der der DDR ähnelte, sagt Joffe. „Ein kleines Land, eingezäunt und umzingelt von Feinden. Ein stolzes Land, an das wir mit leichtem Misstrauen gegen das politische System dennoch glaubten, mit Fahnenappell auf dem Schulhof, Westfernsehen und Milkaschokolade.“ Das habe ihm später die Ankunft im ehemaligen Ostdeutschland leicht gemacht.

Joffes Vater hört zu Hause Wagner, Strauss und Mahler – nicht unumstritten in Israel. Das Kind Ud lernt zunächst Klavier, dann Posaune, der Jugendliche wechselt zur Rockgitarre. Jimmy Hendrix, den Rock’n’Roll der 1960er und 70er, hört Joffe immer noch gerne. Das Interesse an Klassik und Kammermusik erwacht später. Joffe studiert an der Jerusalemer Akademie für Musik und Tanz: Theorie, Dirigieren und Komposition, lernt die Musik von Mozart und Beethoven kennen.

Dann geht er für ein Jahr nach Paris, trifft dort große Dirigenten wie Philippe Herreweghe und William Christie. In Berlin sind es anschließend die großen Ensembles und Interpreten, die ihn beeindrucken, „die Götter“, die er von den CD-Booklets her kennt. Hier sieht und hört er sie live. Und er lernt Deutsch, die Sprache, in der 60 Prozent der großen Chorliteratur geschrieben sind. Bach, Brahms, Mendelssohn – es braucht die Unmittelbarkeit der Sprache, sagt Joffe, eine Handwerklichkeit, die es in gewisser Weise ja ist, um diese Musik richtig zu entdecken. Musik und Sprache, das ist eine Einheit, untrennbar. „Ein O kann man offen oder geschlossen oder in vielen Abstufungen dazwischen aussprechen. Jedes Mal transportiert es ein anderes Gefühl.“

Das Angebot aus Potsdam kommt in einer Zeit, als er eigentlich an eine Rückkehr nach Israel denkt. Aber gleich nach dem Studium einen so großen Chor zu übernehmen, 120 Sänger? Da überlegt er nicht lange. „Was willst du mehr?“, habe er damals gedacht. Als der Gemeindekirchenrat fragt, warum er, ein Jude, die Stelle möchte, antwortet Joffe: „Die christliche Tradition ist Teil meines Berufes.“

Was er nicht wusste oder was ihm damals nicht wichtig erschien: Dass man als professioneller Musiker in Potsdam immer kämpfen muss. Joffe ist ein vehementer Kämpfer für Fördergelder. Ohne Fördergelder, auf dem freien Kulturmarkt, müsste eine Konzertkarte statt 20 Euro etwa 100 Euro kosten. Auch das ist Joffe, ein Streiter. „Ich bin kein Diplomat, sorry, ich bin eben polarisierend.“ Das ist er im Kulturausschuss, das ist er, wenn es sein muss, auch als Vorsitzender der Synagogengemeinde. Joffe scheint nie müßig, er muss rumrennen, organisieren, Plakatentwürfe mit Künstlern besprechen, Flyer bestellen, Farbe kaufen wie neulich für das Konzert des Neuen Kammerorchesters, bei dem der Potsdamer Maler Wolf-Dieter Pfennig live gemalt hat. Auch das ist Joffe: Offen für Neues, auch wenn es manchmal zunächst verrückt klingt.

Längst ist aus der Übergangsphase Ende der 1990er eine feste Verbindung zwischen Joffe und den Potsdamern geworden. Im Frühjahr hat er den „Paulus“ zum zweiten Mal in Potsdam aufgeführt, mit einem anderen Gefühl. Da war mehr Toleranz, weniger Nervosität im Raum.

Neben der Kirchenmusik hat Joffe versucht, auch synagogale Musik in Potsdam aufzuführen. Aber das wäre nicht ohne fundamentale Diskussionen und Rechtfertigungen gegangen und darauf hatte er keine Lust. Obwohl er ja eigentlich gerne diskutiert. In letzter Zeit aber werde er ruhiger, nachdenklicher, bescheidener. Das ewige Wachstum, das Mehr, das Schneller, es nervt ihn, sagt er. Nie hat es ihn gedrängt, zu den ganz großen Star-Dirigenten zu gehören. Ein Elfenbeinturm wäre nichts für ihn – und wenn er noch so gut abgesichert wäre, für einen Familienvater eigentlich eine verlockende Vorstellung. Er gehört nach Potsdam. Zu seinem Orchester, seinem Chor. Es gibt hier noch genug Musik zu entdecken und aufzuführen, Geschichten darin zu entdecken. „Jeden Abend eine andere Oper in einem großen Haus wegwedeln – nein, das könnte ich nicht.“

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