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Kultur: Hallo, Himmel

Die Tanztage 2017 erobern sich zur Eröffnung nicht nur den Alten Markt, sondern nehmen sich auch das Jenseits vor

Dienstagnachmittag in der Potsdamer Innenstadt: Vor der Fachhochschule liegen junge, weißgewandete Menschen mit dem Rücken auf dem Asphalt. In den Händen halten sie weiße Transparente, gerichtet nach oben, in den leicht verhangenen Maihimmel. Auf den Transparenten: Nichts. Auch die Menschen sagen nichts, liegen einfach da. Ob sie auf Antwort warten? Hallo, Himmel! Von oben jedenfalls kommt nichts, der Himmel schweigt zurück. Auch das Gemäuer der Fachhochschule schweigt. Die Menschen am Alten Markt bleiben stehen, staunen und schweigen auch. Worum geht es, fragen sie dann. Wogegen demonstrieren die?

Eine Blaskapelle setzt ein, die etwa 15 weißgewandeten Schweiger stehen auf und ziehen weiter in Richtung Landtag. Neugierige Besucher haben inzwischen von freundlichen jungen Begleiterinnen erfahren: eine Performance ist das, „The Blank Placard Dance“, ein Prolog für die Tanztage 2017. Wogegen hier demonstriert wird, erfährt allerdings auch der neugierigste Besucher nicht, stattdessen muss er selbst antworten: Wogegen würden Sie demonstrieren? Die Begleiterinnen notieren fleißig das Gesagte: Für Meinungsfreiheit. Für Gerechtigkeit, sagen viele. Für die Liebe, sagt eine alte Dame mit Rollator. Manchmal auch komplizierter: Für die Meinung derer, die anderer Meinung sind. Oder: Gegen den Wiederaufbau der Alten Mitte. Gegen den Hass.

Mit „The Blank Placard Dance“, einer Choreografie von Anne Collod nach einer Idee der US-Amerikanerin Anna Halprin, machte die fabrik mit ihrem diesjährigen Ansinnen ernst und zog aus, die Stadt zu erobern. Zwar schlossen sich nur wenige dem Zug länger an, aber viele nahmen ihn wahr, womit das Ziel - Aufmerksamkeit für die Tanztage - zumindest halb erreicht war. Und wer sich tatsächlich darauf einließ, erlebte zwei Stunden lang den Luxus eines von Parolen befreiten, vergnüglichen, seltsam utopischen Nebeneinanders: als Gemeinschaft derer, die sich zum Staunen nicht zu doof sind. Die froh sind, dem Alltag Momente der Stille, des Verharrens abzutrotzen.

Der Demonstrationszug marschierte vom Luisenplatz über die Freundschaftsinsel bis zur Schiffbauergasse, um dort der offiziellen Auftaktveranstaltung der Tanztage den roten Teppich auszurollen. Nach dem besinnlichen, spielerisch inoffiziellen Parcours ging es hier höchst offiziell am Abend weiter. Das Theater war wieder ganz bei sich und seinen Konventionen angekommen: Auftritt „Hieronymus Bosch: Der Garten der Lüste“.

Die kanadische Choreografin Marie Chouinard hatte angekündigt, mit ihrer Arbeit an dem Werk des großen Meisters kleben zu wollen, und das tat sie auch – größtenteils. Zunächst sind die Außenwände des berühmten Triptychons zu sehen, eine transparente Kugel, in der die Welt schwebt, als Scheibe. Dann öffnen sich die Flügel, unter Vogelgezwitscher: Der „Garten der Lüste“ erscheint, der Mittelteil des Triptychons, das links das Paradies und rechts die Hölle zeigt. Der Garten ist ein Lustparadies mit unzähligen Nackten, die sich necken, Früchte zustecken, Küsse andeuten. Ein Farbrausch in grün und blau. Auf der Bühne werden in zwei kugelrunden Bildschirmen Bilddetails aus Boschs Werk gezeigt – ein lasziv abgespreiztes Bein, ein Paar, eine Menage-à-trois. Die zehn bis auf fleischfarbene Slips nackten Tänzer vervielfachen, wiederholen, verfremden die Bildmotive choreografisch. Bis in den Gesichtsausdruck hinein wird das Gemälde zitiert. Unterlegt von Fragmenten sakraler Musik kommt das sehr leichtfüßig daher: Eine hüpfende Kinderschar, die sich am eigenen Körper freut.

Im zweiten Teil, der Hölle, wird es böse, düster – und grotesk. Hier, wo Chouinard sich am meisten von Bosch entfernt, überzeugt sie am wenigsten. Chouinards Hölle ist kreischend laut, die Tänzer rennen als hysterisch-monströse Wesen über die Bühne, vorneweg eine blondperückte Frau: wohl das Alter Ego der Choreografin, die angekündigt hatte, die Hölle wie Meister Bosch für ein Selbstporträt zu nutzen. Auf der Bühne wimmelt es von Requisiten, die teilweise auf ehemalige Produktionen Chouinards anspielen: Krücken etwa, oder ein Mikrofon. Der fröhliche Kindergeburtstag ist zu einem bizarren Halloweenfest geworden, und die Tänzer zu hässlichen Parodien ihrer selbst. Auch wenn Bosch selbst ein Meister des Grotesken war, lässt einen diese Hölle hilflos: Wenn das Jenseits so plakativ daherkommt, macht es keine Angst mehr – sondern nur noch ungeduldig lachen.

Und das Paradies? Licht, wie bei Bosch. Die Tänzer wieder nackt, aber anders als zu Beginn werden sie in eine starre Körperlichkeit gepresst. Sie springen zunächst zappelnd auf die Bühne, nähern sich der Jesus-Gestalt, die wechselnd von Männern und Frauen gegeben wird, und erstarren vor ihr in Standbildern. Bosch zeigt in seinem Paradies-Bild nicht, wie Eva Adam in Versuchung führt. Der Mensch wird nicht aus dem Paradies vertrieben. Sind wir womöglich noch da? Die Schlange räkelt sich bei Bosch nur sachte am Bildrand. Statt der Motive Boschs gucken uns im letzten Akt auf den Bildschirmen zwei menschliche Augen entgegen. Vielleicht ja der große himmlische Beobachter, an den auch die weißen Transparente gerichtet waren? Am Ende kneift er die Lider einen Augenblick ganz fest zusammen: als habe er genug gesehen.

Am gestrigen Mittwoch sorgten die Tanztage noch einmal für Aufsehen im Stadtgebiet: Die Kanadierin Caroline Laurin-Beaucage reckte und räkelte, zuckte und tastete sich durch einen transparenten Käfig mitten auf dem Alten Markt. „Habiter sa mémoire“ (In der Erinnerung leben) hieß ihre Performance, vier Stunden lang in großer Hitze, von vorüberströmenden Touristen weitgehend unbeachtet. Auch sie hob ab und an den Kopf. Hallo, Himmel?

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