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Kultur: Gründungsvater des ORB: „Mehr Öffentlichkeit“ Friedrich-Wilhelm von Sells Erinnerungen

Im Mai 1991 kehrte Friedrich-Wilhelm von Sell für ein halbes Jahr in „sein geliebtes Potsdam“ zurück. Ministerpräsident Manfred Stolpe hatte ihn beauftragt, als Gründungsintendant den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) aufzubauen.

Im Mai 1991 kehrte Friedrich-Wilhelm von Sell für ein halbes Jahr in „sein geliebtes Potsdam“ zurück. Ministerpräsident Manfred Stolpe hatte ihn beauftragt, als Gründungsintendant den Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) aufzubauen. Von der Baracke 307 auf dem Babelsberger Filmgelände aus überwand von Sell politische Widerstände und Misstrauen gegenüber dem „Wessi“, setzte den Finanzausgleich für den ORB durch und bewirkte die Übernahme von „Antenne Brandenburg“.

In seinen jetzt unter dem Titel „Mehr Öffentlichkeit!“ erschienenen Erinnerungen schildert der nunmehr 80-Jährige auch diese turbulente Zeit mit Protagonisten wie Diestel, Birthler oder Bisky. Eine „Rückkehr“ nach Potsdam war es für ihn insofern, als zahlreiche von Sells hier gewohnt und als Offiziere gedient hatten. So stieg sein Vater Ulrich von Sell 1910 zum Adjutanten des Reichskanzlers von Bethmann-Hollweg auf und übernahm in den 20er Jahren die Leitung der Privatschatulle des nach Holland emigrierten Kaisers Wilhelm II.

Daraus resultiert auch, dass Friedrich-Wilhelm von Sell der letzte Patensohn des letzten deutschen Kaisers wurde. In seinen Erinnerungen veröffentlicht er einige historische Aufnahmen, textlich hält er die Familiengeschichte eher kurz.

In den Mittelpunkt stellt der Jurist und Verwaltungsfachmann seine Rolle beim Ausbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, die 1976 bis 1985 in der Tätigkeit als Intendant des Westdeutschen Rundfunks (WDR) gipfelte. In dieser Zeit setzte von Sell eine Umstrukturierung des Programms durch, brachte u.a. die berühmte Fernsehproduktion „Das Boot“ auf den Weg, kaufte aus den USA die Serie „Der Holocaust“ an – aber auch ein millionenschweres Paket von Unterhaltungsfilmen, deren ständige Wiederaufführungen bis heute das ARD-Programm mit prägen. Dem Buchtitel „Mehr Öffentlichkeit!“ folgend, stellt der Autor die Versuche parteipolitischer Einflussnahme, personelle Intrigen und die Widerstände im eigenen Haus recht offen dar.

An neuen Entwicklungen mitzuwirken, komplizierte Probleme mutig anzugehen, Entscheidungfreude, das sind wohl herausstechende Eigenschaften des Medienfachmanns. Er bildete 1948 mit zwei Kommilitonen den Gründungs-ASTA der Freien Universität Berlin, hob 1960 den Deutschlandfunk mit aus der Taufe, führte 1976 die Gebühreneinzugszentrale (GEZ) für den Rundfunk ein und trug nach dem Aufbau des ORB 1993 zur Neuordnung des Rundfunksystems in Südafrika bei.

Einmal allerdings zögerte von Sell mit seiner Entscheidung: Das war im Jahr 1984, als ihn eine Einladung des Bornstedter Pfarrers Gottfried Kunzendorf zu einer Gedenkfeier für die Männer des 20. Juli 1944 erreichte. Er sollte dort über seinen Vater sprechen. Als WDR-Intendant und damit Repräsentant eines vom SED-Regime bekämpften Systems befürchtete er, dass seine Teilnahme zu Repressalien gegen die Einladenden führen könnte. Kunzendorf gelang es jedoch, diese Bedenken zu zerstreuen.

Seit der Gedenkfeier in der Bornstedter Kirche hat sich Friedrich-Wilhelm von Sell verstärkt bemüht, das tragische Schicksal seines Vaters aufzuklären und ihn als Widerstandskämpfer zu würdigen. Ulrich Freiherr von Sell war an den Vorbereitungen des Hitler-Attentats beteiligt und nach dessen Erfolg als Verbindungsoffizier für den Wehrkreis IX (Kassel) vorgesehen. Nach dem Scheitern wurde er von der Gestapo verhaftet. Am Kriegsende glaubten die Russen dieser Schilderung nicht und internierten von Sell im Lager Jamlitz, wo er krank und entkräftet am 11. November 1945 starb. Diese Umstände trugen dazu bei, dass seine Rolle im Widerstand nie richtig bewertet wurde, schreibt Friedrich-Wilhelm von Sell. Er erreichte inzwischen mit Hilfe des Kleinmachnower Dokumentaristen Bengt von zur Mühlen von russischer Seite die Rehabilitierung seines Vaters und ließ ihm auf dem Familiengrab in Bornstedt einen Gedenkstein setzen.

Erhart Hohenstein

Friedrich-Wilhelm von Sell, Mehr Öffentlichkeit! Erinnerungen, zu Klampen Verlag, Springe 2006, ISBN 3-934920-89-6

Erhart Hohenstein

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