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Protest gegen die paramilitärische Ungarische Garde. Gáspar Miklós Tamás im Jahr 2007.

© picture-alliance/ dpa / Szilard_Koszticsak

Gáspar Miklós Tamás: Orbáns großer Gegenspieler

Wir verstehen Ungarn ein wenig besser, wenn wir uns an den verstorbenen Philosophen erinnern.

Ein Kommentar von Gregor Dotzauer

Nicht, dass Viktor Orbán ohne Gegenwind regieren könnte. In Budapest, vor seiner Haustür, raufen sich Lehrer und Schüler seit Monaten zu Protesten zusammen und streiken gerade wieder gegen die ruinöse Niedriglohnpolitik der Fidesz-Regierung im Bildungssektor. Und im fernen Brüssel, dessen EU-Bürokratie angeblich die Hälfte aller Ungarn für korrupt hält, enthält man dem Mitgliedsland wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit derzeit 6,3 Milliarden Euro an Fördermitteln vor. Beides sorgt aber höchstens für einen kühlen Luftzug in einem Land, dessen illiberale Demokratie, wie sie der Ministerpräsident selbst nennt, bisher jeden aufkommenden Sturm überstanden hat.

Jetzt ist im Alter von 74 Jahren auch noch der Mann gestorben, der die größte Symbolfigur des Widerstands gegen Orbán war. Der Philosoph Gáspar Miklós Tamás, hierzulande nur Wenigen ein Begriff, vermochte auszusprechen, wie es um Orbáns „Postfaschismus“, wie eine seiner Prägungen heißt, bestellt ist. Er machte nicht den Fehler, Ungarns Ministerpräsidenten in eine Reihe mit den großen Diktatoren dieser Welt zu stellen. Tamás sah in aller Klarheit, mit welchem Raffinement Orbán ein posttotalitäres Regime errichtet hatte, dessen antiaufklärerische Strukturen sich kaum noch zurückbauen lassen.

Er konnte das offener als viele andere, weil er seit 2011, als Orbán ihn als Direktor des Philosophischen Instituts der Akademie der Wissenschaften in die Frührente hatte schicken lassen, mehr oder minder vogelfrei war. Zäh geworden im Kampf gegen die Ceausescu-Tyrannei, die ihm, dem ungarischen Juden im siebenbürgischen Cluj, in jungen Jahren das Leben schwer machte, und fast schon bitter in der Opposition gegen das kommunistische Ungarn, musste Tamás erleben, wie der einst liberale Orbán die Herrschaft nach der Wende an sich riss.

Man muss weder alle seine Diagnosen teilen – noch seine Positionen. Von einem marxistisch unterbauten Anarchosyndikalismus zu einem linksgrünen Ökologieverständnis hat er viele Wandlungen durchgemacht. Aber wenn er erklärte, wie man in Ungarn eine Mehrheit dazu bringen konnte, gegen die eigenen Interessen Orbán zu wählen, weil man ihnen in Form alter historischer Traumata und Ressentiments gegen die Roma-Bevölkerung Nationalismus und Rassismus auf neue Weise schmackhaft machen konnte, traf er die Verhältnisse auf den Kopf. In Ungarn hält die Trauer um TMG, wie seine Inititialen in Ungarn lauten, an. Wir verstehen das Land ein Stück weit besser, wenn wir uns ihr anschließen.

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