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 Sie leidet unter PMS, er unter Panikattacken. Aber die Nähe beim Haareschneiden erträgt er irgendwann: „All the Long Nights“ von Shô Miyake, mit Hokuto Matsumura und Mone Kamishiraishi (r.)

© Maiko Seo/ All the Long Nights Film Partners

Filme aus Japan auf der Berlinale: Seid achtsam!

Wo Männer Blumen gießen: Die japanischen Forums-Beiträge „The Cats of Gogoku Shrine“ und „All the Long Nights“ verteidigen die altmodischen Tugenden der Rücksicht und des Gemeinsinns.

Die alten Männer pflegen die Pflanzen im Park des Schinto-Schreins. Behutsam setzen sie Minze in die Beete an der Treppe hoch zum Schrein, zupfen verwelkte Blätter ab, wässern und harken. Und sie helfen den Freiwilligen, wenn diese die Straßenkatzen in Drahtkästen einfangen, um sie zu kastrieren und zu impfen: ein liebevoll-grausames Unterfangen.

Die Katzen in der kleinen Stadt Ushimado am Seto-Binnenmeer sind ein Problem. Sie vermehren sich über die Maßen, stibitzen den Anglern die Fische und hinterlassen überall Exkremente. Im Gemeindezentrum wird um Lösungen wegen der Katzenkacke gerungen.

Kazuhiro Soda hat sich mit beobachtenden Dokumentar- und Spielfilmen einen Namen gemacht. Er und seine Frau, die Produzentin Kiyoko Kashiwagi, lebten in New York, die Pandemie verschlug sie nach Ushimado. Nun hockt er mit der Kamera auf Bordsteinhöhe, bewegt sich kaum vom Fleck, und eine Welt tut sich auf: Hobbyfotografen nehmen die Katzen ins Visier, eine junge Frau erholt sich von der Großstadt, die alten Männer sehen sich in der Pflicht, für Ordnung zu sorgen.

Die Leute sprechen den Filmemacher an, erzählen, dass sie der Katzen wegen anreisen oder dass vor allem ältere Angler hierherkommen, weil es vom Parkplatz nur zwei Schritte zum Kai sind. Und beim Klassenausflug interviewt ein kleiner Junge Soda zu seinem Beruf.

Die Straßenkatzen brauchen Fürsorge, und sind doch viel zu viele:  „The Cats of Gogoku Shrine“, mit Yamamoto-san und dem Kater Mr. Boo.
Die Straßenkatzen brauchen Fürsorge, und sind doch viel zu viele: „The Cats of Gogoku Shrine“, mit Yamamoto-san und dem Kater Mr. Boo.

© Laboratory X, Inc.

Nach und nach merkt man: Im Mikrokosmos von Ushimado gehen die Menschen nicht nur mit der Minze behutsam um. Die Katzen müssen dezimiert werden, aber wenn eine stirbt, bekommt sie Räucherstäbchen und Narzissen ans Grab.

Vielleicht ist es ein Vorurteil, dass das Gemeinwohl in Japan einen höheren Stellenwert hat als anderswo. Auch in Wim Wenders‘ oscar-nominierten Tokio-Film „Perfect Days“ über einen Toilettenmann kann man sehen, mit welch liebevoller Sorgrfalt hier Dienstleistungen verrichtet werden. Vielleicht ist der Altruismus auch eine Frage der sozialen Schicht. Der Spielfilm „All the Long Nights“ von Shô Miyake erzählt jedenfalls von der Achtsamkeit und Zugewandtheit der sogenannten kleinen Leute, ähnlich wie Sodas Dokumentarfilm.

Der Schauplatz: ein Handwerksbetrieb für optische Geräte. Fast hat man den Eindruck, hier werde nicht nur die Ware bald ausgemustert, sondern auch die Belegschaft. Hier arbeiten Fujisawa (Mone Kamishiraishi) und Yamazoe (Hokuto Matsumura): Er leidet unter Panikattacken, sie unter PMS – wobei das prämenstruelle Syndrom bei ihr weniger zu Melancholie führt als zu unmotivierten Wutausbrüchen.

Über psychische Handicaps wird in der japanischen Leistungsgesellschaft wohl noch weniger öffentlich gesprochen als in europäischen Industrienationen. II der kleinen Firma Kurita Optics werden die beiden immerhin nicht gleich wieder entlassen, wenn eins der Symptome sich Bahn bricht und zum Beispiel Fujisawa einen arglosen Kollegen am Kopiergerät zur Schnecke macht. Schwierig ist nur, dass Yamazoe ihre etwas aufdringliche Freundlichkeit nicht verträgt, wenn sie mal wieder Gebäck für alle ins Büro mitbringt.

Es dauert, bis er sich aus seinem Schneckenhaus wagt. Und bis sie weiß, was seine Ängste triggern kann. Ein Kollegenkreis ist keine Familie, aber vom verhaltenen Respekt, den kleinen Fürsorglichkeiten und Vermittlungsbemühungen dieser Angestellten können Familien nur lernen. Auch hier gießt übrigens ein älterer Mann täglich die Blumen: der Chef persönlich. In Zeiten von shared desk und der Effizienz mobilen Arbeitens stören solche Gepflogenheiten nur noch. Beide Filme, „The Cats of Gogoku Shrine“ wie auch „All the Long Nights”, verteidigen vermeintlich altmodische Tugenden, die unsere sich spaltende Gesellschaft so dringend benötigt.       

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