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Jetzt sind die Frauen an der Reihe – in „Grandmamauntsistercat“ von Zuza Banasińska.

© uza Banasińska / Educational Film Studio in Łódź

Experimentelle Filme bei der Berlinale : Im Zerrspiegel der neuen Ordnung

Kunstfilme gehören zur Berlinale wie Blockbuster und der Bär. Das „Forum Expanded“ erzählt von Gemeinschaften, die sich großen Veränderungen gegenüber sehen.

Das Forum Expanded der Berlinale widmet sich Filmen, die die Grenzen des Kinos sprengen, ästhetische, formale und technische Experimente, die ins Kunstfach oder ins Performative ausgreifen. In den vergangenen Jahren war damit stets eine große Ausstellung verbunden, die Filme als Rauminstallationen zeigte. In der aktuellen Ausgabe finden die meisten Beiträge dieser Berlinale-Sektion überraschenderweise auf der Leinwand statt.

Austragungsort ist wie schon zuvor das Silent Green, die Betonhalle eines ehemaligen Krematoriums in Wedding. Die Halle wurde in diesem Jahr zum üppigen Kino mit 260 Sitzen umgebaut (das sind mehr als im großen Saal des Arsenal-Kinos am Potsdamer Platz). Von 19 Werken sind dieses Mal nur zwei installativ.

Highlight zur Eröffnung am 16. Februar ist eine Expanded Cinema Performance der mexikanischen Filmemacherinnen Elena Pardo und Azucena Losana. Die beiden arbeiten in ihrer Performance mit drei 16-mm-Projektoren, sowie mit selbstgebauten Projektoren und Objekten. Sie erzählen anhand echter Naturaufnahmen über ein imaginäres, hyperproduktives Pilzgeflecht, das die Welt ständig erneuert und die Gemeinschaft der Arten zelebriert. Die Filmemacherinnen sind Teil der internationalen und mexikanischen, experimentellen Film-Lab-Szene, die mit analogen Techniken wie 16-mm-Film arbeitet und diese bewahrt. Eine Welt für sich, zu der auch das Arsenal in Berlin gehört und die in der kommerziellen, digitalen Filmindustrie im Moment einen Hype erlebt.

Kommunikation der Pilze

Die 16 Lang- und Kurzfilme, die auf der Leinwand im Silent Green und im Arsenal zu sehen sind, kreisen um menschliche Gemeinschaften unterschiedlicher Art. Es geht um feste oder temporäre Gruppen, um Aktivisten, Wahlverwandtschaften, Familien oder Kollegen, deren Gefüge „bedroht, in Auflösung begriffen oder bestimmten Gefahren und Zwängen ausgeliefert“ sind. So beschreiben es die Forum Expanded-Kuratoren Ulrich Ziemons und Ala Younis.

Zu den längeren Filmen dieser Sektion gehört mit 53 Minuten „The Periphery of the Base“ des chinesischen Künstlers Zhou Tao. Der Film feiert seine Weltpremiere. Zhou Taos Fotos und Filmaufnahmen aus der Wüste Gobi waren in Berlin bereits an anderen Orten zu sehen, etwa 2020 im Times Art Center, eine Dependance eines chinesischen Museums, die inzwischen geschlossen wurde. Zhou Taos neuer Film spielt ebenfalls in der Wüste Gobi. Der 1976 in der chinesischen Provinz Hunan geborene Künstler zeigt darin den Alltag von Wanderarbeitern, die in dieser kargen, staubigen Landschaft auf einer riesigen Baustelle arbeiten. Was da genau gebaut wird, erfährt man im Film nicht.

„The Periphery of the Base“ von Zhou Tao ist der längste Film beim Forum Expanded.

© Zhou Tao

Die in der Wüstenlandschaft umherschweifende Kamera tastet eine riesige Betonrampe ab, sie wirkt wie eine Mondlandschaft, auf der winzige Menschen herumspazieren. Dieselben Menschen werden in anderen Einstellungen aus nächster Nähe gezeigt. Die Kamera zoomt auf die Kleidung der Arbeiter, auf den Stoff der Zelte, in ihre Schlafcamps und auf den Himmel. Zhou Tao, der selbst die Kamera führt, kombiniert Close-ups mit Bildern aus großer Distanz.

Sehr auffällig ist der laute, gestochen scharfe Sound, mit dem er die Stimmen der Arbeiter einfängt. Die Gespräche in Mandarin sind per Untertitel übersetzt, es geht um alltägliches, um Speisen, ums Trinken und um gierige Chefs. Die Menschen richten sich ein in dieser unwirtlichen Natur, machen sie erst zum Lebensraum, verändern sie unwiederbringlich.

Schuften in der Wüste Gobi

Je weiter der Film fortschreitet, desto künstlerischer werden die Bilder bis sie schließlich komplett ins Abstrakte abtauchen und sich in eine Welt aus Licht und Schatten verwandeln. Die Kamera versucht im dichten Staub noch Hell und Dunkel zu unterscheiden, bleibt auch unter härtesten Bedingungen am Ball, ganz ähnlich wie es auch die Wanderarbeiter tun.

Seine internationale Premiere feiert der Kurzfilm „Grandmamauntsistercat“ der Künstlerin Zuza Banasińska. In der Welt, die die polnische Filmemacherin hier entwirft, holt die Tochter die Mutter vom Kindergarten ab – und nicht umgekehrt. Überhaupt entspricht das gezeigte Familienkonstrukt nicht den gängigen Klischees.

Banasińska spannt die slawische Märchenfigur, die Waldfrau Baba Jaga, als prähistorische Göttin aus der Zeit des Matriarchats vor ihren Karren. Baba Jaga ist aber auch eine Göttin des Nach-Anthropozäns, wo Geschlechteridentitäten fließend und Mensch, Tier und Technik zu neuen Spezies verschmolzen sind. Der leise Horror, der den Film durchweht, kommt daher, dass die Bilder aus einer ganz anderen Ära stammen, es ist Archivmaterial des Lehrfilmstudios in Łódź und zeigt konservative Familienbilder aus dem kommunistischen Polen. Die Künstlerin haucht dem Material mithilfe von Sound, Text und Glitches eine neue Seele ein.

Aussterbende Berufe, alte Erzählungen, subjektive und widersprüchliche Erinnerungen durchziehen diese Ausgabe des Forum Expanded. In vielen Filmen spielt die Landschaft eine essenzielle Rolle. Wolken und Wetter, Wind und Wald stehen als Metaphern für Evolution und Wandel.

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