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Fratelli Lievi. Die Brüder Daniele (links) und Cesare (rechts), hier im Jahr 1987, waren in der Theaterszene eine Marke.

© Andreas Pohlmann

Ausstellung Daniele Lievi: Eine Welt in puppenhausgroßen Guckkästen

Das Museo di Salò am Gardasee zeigt eine zauberhafte Retrospektive des Theatervisionärs Daniele Lievi. Und führt das einzigartige Werk zurück an seine Ursprünge.

Die Verbindung von Bühne und Bildender Kunst eröffnet im Glücksfall über alle Kulissen hinweg: wahre Welträume. So einst bei Schinkels gestirntem Himmel, den der preußische Genius für Mozarts „Zauberflöte“ schuf, oder bei den universellen Zauberszenerien eines Robert Wilson heute. Doch fast noch erstaunlicher wirkt die Kunst, wenn sie statt in Riesenräumen allein mittels einer Miniatur monumentale Effekte erzielt.

So ein Urknall aus dem innersten Kunstkern geschah bei der Biennale von Venedig im Jahr 1984. Es war eine Sensation, die nun noch in einer der schönsten Ausstellungen dieses Sommers nachhallt. Damals hatten die Brüder Cesare und Daniele Lievi mit ein paar Laienschauspielern in Venedig Georg Trakls Gruselmärchendrama vom mörderischen Ritter Blaubart als „Barbablù“ aufgeführt. Im Bühnenbild des damals kaum dreißigjährigen Malers Daniele Lievi und inszeniert von seinem ein Jahr älteren Bruder, dem Poeten und Regisseur Cesare. Die bei der Biennale preisgekrönte Aufführung wurde schnell Kult und später unter anderem am Wiener Burgtheater wiederholt.

Die „Fratelli Lievi“, so ihr Markenname, hatten das fast vergessene Stück mit ihrem kleinen, zunächst privaten Teatro dell’ Acqua in dem am Gardasee gelegenen Hafendörfchen Villa entwickelt, nahe ihrem Geburtshaus am Wasser. Und mit einem Schlag waren sie nun gefragte Künstler: von Mailand bis Wien, von Hamburg, Berlin, Frankfurt/Main bis Basel und Zürich.

Die Geschichte nicht nur des 1979 gegründeten „Wassertheaters“ gleicht einem modernen Märchen – so war der begabteste Schauspieler der ersten Aufführungen im Hauptberuf Straßenkehrer. Indes haben vor allem Daniele Lievis Bühnenbilder hier eine stille Revolution der Optik, des szenischen Blicks bewirkt. Weil das Teatro dell’ Acqua anfangs in einem vergleichsweise winzigen Raum spielte, für den „Blaubart“ aber Szenerien wie ein Schloss, mysteriöse Gänge, Gärten, Fabelräume nötig waren, versetzte Daniele Lievi die Zuschauer in einen dunkel Lichtschacht, an dessen Ende ein bloß puppenbühnengroßer Guckkasten hin- und herbewegt und in seinen sichtbaren Ausschnitten virtuos verschoben, gegliedert, verkleinert und wieder ganz aufgezogen wurde.

Bruder Cesare ist heute ein gefragter Opern-Regisseur

Das ergab virtuose Zoomeffekte, mal erschien vor malerischen Horizonten nur eine Hand, ein halber Kopf oder ein hochhackiger Damenschuh und wirkte als pars pro toto vergleichsweise riesig, während ganze halbe Menschen im Hintergrund eher klein erschienen. Das erzeugte einen magischen Sog, die Zuschauer glaubten sich allmählich selbst in einem poetischen Traum gefangen.

Innenansicht der Ausstellung in dem ehemaligen Kloster.

© Museo di Salò

Heute ist Cesare Lievi vor allem in der Oper ein international gefragter Regisseur; im September hat in Florenz seine Inszenierung von Verdis „Troubadour“ mit Zubin Mehta Premiere, und zum Jahresende bringt er in Genua die „Fledermaus“ nach Italien, mit Udo Samel in der Sprechrolle des Froschs. Doch Daniele, sein genial inspirierender Bruder, ist schon Ende 1990 mit nur 36 Jahren an HIV gestorben. Seine letzten Entwürfe galten einer Lievi-Inszenierung von Wagners „Parsifal“ 1990/91 an der Mailänder Scala, mit Muti und Placido Domingo. Doch lebt das Werk dieses Bildkünstlers jetzt weit über das Theater hinaus in einer großen Retrospektive weiter.

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Es ist eine Wiederentdeckung. Denn das vor einigen Jahren in einem ehemaligen Kloster neu eröffnete, mit italienischer Eleganz Spätbarock und Moderne vereinende Museum MuSa in der Hafenstadt Salò am Gardasee zeigt noch bis Ende November knapp 160 Zeichnungen und Gemälde, dazu über hundert Fotografien und zahlreiche Filmausschnitte unter dem Titel „Daniele Lievi: Carte Segrete – Teatro Visioni“. Wobei die „geheimen Blätter“ des Theatervisionärs immer die Spannung zwischen Bühnenfantasien und Realität reflektieren. Theaterträume eröffnen hier Welträume, indem eine geschlossene Sphäre in immer neue, überraschende Beziehungen zur Umgebung gerät – zu den weiteren Räumen einer imaginierten Außenwelt.

Kreative Zellen mit Falltüren

Fast sinnbildlich ist dabei die Verbindung zu Dramen von Botho Strauß: kristallisiert in den Bildern Daniele Lievis zu Strauß’ „Die Zeit und das Zimmer“, einem Rätselstück, in dem Raum und Zeit sich relativieren und zugleich bedingen. Bei Lievi, der immer wieder von der Idee eines eigenen Zimmers als Kindheitstraum und kreativer Zelle ausgeht, öffnen sich dann viele Türen. Oft aber sind es Falltüren, ihre Flügel gehen vertikal auf, stürzen dem Betrachter entgegen oder öffnen sich nach hinten zu einem Abgrund. Hier treten fremde Menschen und Tiere, Fabelwesen wie Einhörner oder surreale Erscheinungen wie selbstverständlich ein. Fallen ins Bild oder kippen hinaus. Schweben oder erstarren.

Die Zeichnung "La torre" von 1989.

© Daniele Lievi

Cesare Lievi, der die nach einer Preview in Brescia nunmehr erweiterte Schau zusammen mit Bianca Simoni kuratiert hat, erzählt, dass sein Bruder auch während der Arbeit an einem Theaterstück unaufhörlich mit Stift und Pinsel neue Assoziationen, eigene Geschichten, ergänzende Bildideen auf seine poetisch-ironisch als Carte segrete bezeichneten Blätter gemalt habe. Jenseits der in sieben großen Sälen gezeigten Exponate würden „noch hunderte Notizhefte“ seines Bruders im Nachlass ruhen.

(„Daniele Lievi: Carte Segrete - Teatro Visioni“ Museo MuSa in Salò, bis 30. November)

Daniele war offenbar ein unerschöpflicher Bilderträumer, dessen fein gezeichnete Farbfiguren mal kindlich verspielt, mal surreal fantastisch oder intellektuell ziseliert erscheinen. Magritte, Mirò und vor allem Paul Klee scheinen da als Lievis Vorbilder auf. Zugleich reizt ihn als Bühnenbildner das Geometrische, die Architektur von Räumen, hierin in der italienischen Tradition ein Erbe auch von Giorgio de Chirico. Kein Wunder, dass nach dem Auftakt bei der venezianischen Biennale ein nächster nachwirkender Auftritt Lievis Ende der 1980er Jahre im Frankfurter Architekturmuseum stattfand.

Besonders eindrucksvoll ist auch das Zusammenspiel von Innenraum und Außenwelt in den Dokumenten einer Heidelberger Inszenierung von Ionescos „Der neue Mieter“: ein absurdes Klaustrophobiedrama wie aus einer Kafka-Erzählung, das die Lievi-Brüder mit dem blauen Licht auch des Lago di Garda und des Mittelmeers kontrastierten. Wieder ein grandioser Minimalismus, damals ein Triumph auch beim Berliner Theatertreffen. Das MuSa in Salò ist zur Erinnerung daran, was die Kunst schon vor der Digitalität an szenischen Bilderwelten entfachen konnte, nunmehr eine Reise wert. Bevor die Lievi-Ausstellung nächstes Jahr womöglich nach Wien, Frankfurt oder Berlin wandert, hat sie am Gardasee noch das Flair des erstaunlichen Ursprungs.

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