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Thomas Böhm, Durs Grünbein und Ingo Schulze (von links).

© Andrea Lütkewitz

Durs Grünbein und Ingo Schulze bei Lit:Potsdam: Ein Abend mit Anlaufschwierigkeiten

Wenn sich zwei Menschen von Kindesbeinen an kennen, könnte man nette Anekdoten erwarten. Nicht so bei Lyriker Durs Grünbein und Schriftsteller Ingo Schulze. Dennoch: Der Abend mit den beiden hat sich gelohnt.

Potsdam - Mit dem Beginn einer Gesprächsrunde verhält es sich ganz ähnlich wie mit den ersten Sätzen eines Buches: Wird die Neugier geweckt, bleiben Zuhörer und Leser dran. Der erfahrene Moderator und RadioEins-„Literaturagent“ Thomas Böhm weiß das natürlich. Anekdotenhaft sollte darum die finale Veranstaltung des diesjährigen Lit:Potsdam am Sonntagabend im Garten der Villa Quandt starten.

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Dass sich die geladenen Gäste, Lyriker Durs Grünbein und Schriftsteller Ingo Schulze, schon seit dem Kindergarten kennen würden, habe ihn überrascht, so Böhm. Darum wollte er wissen, was denn die älteste Erinnerung an den jeweils anderen sei. Was mit dieser Frage in eine lockere Unterhaltung hätten münden können, blieb dann aber eher zurückhaltend und strahlte sogar eine leichte Verlegenheit aus - keiner der beiden konnte sich richtig erinnern. Auch die Frage, ob es Stellen in ihren Werken gäbe, wo der jeweils andere vorkomme, versandete etwas. „Schwer zu sagen, es gab Anregungen“, sagte Schulze. Konkreter wurde es dann aber wieder nicht.

Die Auseinandersetzung mit der Transformation Dresdens

Ein wenig zeichnete dieser Einstieg den Abend vor, denn so richtig aus der Reserve locken ließen sich beide weiterhin nicht, wenn es um ihre gemeinsame Herkunft und Persönliches - beide sind gebürtige Dresdner - ging. Das ist zwar etwas bedauerlich und nahm dem Gespräch Leichtigkeit. Aber dennoch: Die letzten Bücher der beiden in ein Verhältnis zu setzen, war ein spannendes Unterfangen, und darum sollte es ohnehin im Kern unter der Ankündigung „Besprochene und erzählte Welt“ gehen.

Gewagt erscheint es zunächst, Grünbeins essayistisches und lyrisches Werk „Aus der Traum (Kartei)“ und Ingo Schulzes Roman „Die rechtschaffenden Mörder“ - nach der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Übrigen 2020 „völlig zurecht für den Leipziger Buchpreis nominiert“ - an einem Abend zu betrachten. Doch bei aller Formverschiedenheit treiben beide dieselben Themen um, zu denen im Kern Fragen nach der literarischen Selbstverortung unter Erleben historischer Umbrüche gehören sowie die Veränderungen, welche die Stadt Dresden seit 1989, insbesondere aber auch seit „Pegida" durchläuft. Dabei ist die Auseinandersetzung mit der Transformation der Stadt natürlich synonym zur gesamtpolitischen Entwicklung zu verstehen. Wenn Ingo Schulze in seinem Roman einen von vielen vergötterten sächsischen Buchhändler skizziert, der nach der Friedlichen Revolution an Bedeutung verliert und sich ganz rechts außen neu positioniert, wenn sich Durs Grünbein in einem Aufsatz an ein dunkelhäutiges Kind erinnert, das in einer Dresdner Straßenbahn rassistisch beleidigt und bedrängt wird, dann ist der Schmerz über die Geschehnisse in der Heimatstadt deutlich spürbar, dann verliert sich auch ein sonst zurückhaltender Schulze kurz in einem emotionalen, verstehenwollenden Warum.

Viele Anregungen trotz offener Fragen

Aktuelle Themen, die sich hier anboten, die Rassismusdebatte etwa, wurden leider nicht aufgegriffen, dabei hätte es dem Abend gutgetan, hin und wieder zu punktieren. Denn nicht immer war es leicht, allen Gedankengängen zu folgen, weil sie so klug wie sprunghaft waren, und auch einige Nachfragen Böhms, die der Versuch waren, einen roten Faden zu spinnen, blieben unbeantwortet, als die beiden Literaten gegen Ende doch noch ins Erzählen kamen. Eine Anregung, sich die Werke der beiden Autoren zu Hause in aller Ruhe noch einmal zu Gemüte zu führen, war dieser Abend aber trotz aller Anlaufschwierigkeiten allemal - und allein deswegen lohnenswert.

Nur eines sei zum Schluss noch angemerkt: Die Lesebühnen an den Abenden waren überwiegend Männern vorbehalten, wobei umso mehr auffällt, wenn beim „Familientag im Park“ ausschließlich weibliche Autorinnen zu erleben sind. Dem ja durchaus facettenreichen Festival hätte gerade am letzten Tag zur Primetime noch mal eine weibliche Perspektive gutgetan. Aber wer weiß, vielleicht im nächsten Jahr?

Andrea Lütkewitz

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