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Michael Ruetz, „Timescape 162“, 
Pariser Platz, Berlin-Mitte

© Michael Ruetz

Die Zeit verstreicht: Michael Ruetz hält sie in seinen Bildern fest

Ein halbes Jahrhundert hat der Berliner Fotograf den Umbau von Städten und Landschaften dokumentiert. Die Akademie der Künste zeigt eine großartige Ausstellung darüber.

Nostalgie ist unangebracht. Sie passt auch nicht zu Michael Ruetz. Sein Projekt, Zeit mit den Mitteln der Fotografie sichtbar zu machen, hat er über ein halbes Jahrhundert so beharrlich und fast schon störrisch durchgezogen, dass man seine Ausstellung in der Akademie der Künste nur bewundern kann.

Großartig ist sie außerdem. „Poesie der Zeit: Timescapes 1966-2023“ macht es sich einfach und schwer zugleich. Wie Zeit verstreicht, verdeutlicht für einen Fotografen am ehesten ein konkreter Ort, der sich über die Jahre verändert: Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Doch um diesen Wandel zu dokumentieren, muss man wie Ruetz jenen Ort immer wieder aufsuchen und dieselbe Perspektive einnehmen: Reichstag, Potsdamer Platz, Palast der Republik. Berlin hat ihm das ab 1989 ziemlich schwer gemacht.

Neue Baugruben, Hochhäuser oder Sicherheitszonen um die Ministerien. Plötzlich verschwindet der Punkt, an dem der Berliner Fotograf im vergangenen Jahr noch gestanden und den er auf seiner Karte rot markiert hat. Manche der Langzeitbeobachtungen enden an dieser Stelle. Doch der 1940 in Berlin geborene Ruetz verfolgt das gesamte Projekt mit entschlossener Leidenschaft. In „Facing Time“, einem Dokumentarfilm über den Fotografen, der auf diversen Festivals lief und nun in der Ausstellung gezeigt wird, sieht man ihn bei der Arbeit. Immer dabei: seine Projektmitarbeiterin, die Künstlerin Astrid Köppe.

Da stehen sie und zählen die Abstände

Mitten im Winter stehen sie an der Spree, um die Streben am metallenen Gitter abzuzählen. Welche hat der Fotograf notiert, waren es die vertikalen oder horizontalen? Köppe ist unsicher, was den Standort anbelangt. Ruetz aber postiert sich schon und baut sein Equipment auf, das nun in der Ausstellung unter Glas liegt.

Michael Ruetz, seit den späten neunziger Jahren Mitglied der Akademie der Künste, hat alles – die „Timescapes“, seine Kameras, das gesamte dokumentarische Material einschließlich eines selbstgebauten Modells von Berlin-Mitte mit Mauer – an das Archiv übergeben. Sein Projekt ist beendet, von 360 Orten zeigt Kuratorin Franziska Schmidt in der Ausstellung 23 Beispiele.

Vorwiegend aus Berlin und Umgebung und stets als panoramahafte, großformatige Abzüge, die die teils tiefgreifenden Veränderungen von Jahrzehnten auf drei bis sechs Bildbeispiele verdichten. Tatsächlich sind es wie bei „Nr. 162“ siebzehn Aufnahmen vom Brandenburger Tor. Doch es gibt auch einen Langzeitfilm, in dem Ruetz die Gewalt der Natur auf eine atmosphärische Landschaft in Süddeutschland beobachtet.

Das Grün verschwindet unter dem Asphalt

In der Schau versinnbildlicht „Timescape 423“ einen ähnlichen Stillstand mitten im Urbanen. Drei bis sechs Bildbeispiele „Albrechts Teerofen, Berlin Steglitz-Zehlendorf“ zeigen eine Schneelandschaft von 1991, eine rumpelige Straße an derselben Stelle (1996) und eine grün überwucherte Fläche im Juli 2007. Was aus dem zentralen Baum auf den ersten zwei Bildern geworden ist, bleibt ein Rätsel. Sonst aber wächst die Natur immer weiter. Eine Ausnahme.

Michael Ruetz, „Timescape 139“, Linkstraße, Potsdamer Platz, Berlin-Mitte

© Michael Ruetz

An den übrigen Standorten wie Reichpietschufer, Alexanderufer, Schlossplatz oder Tacheles wird das Grün der neunziger Jahre immer grauer, bis schließlich alles überbaut und asphaltiert ist. Einen „Zeitschock“ nennt es Franziska Schmidt. Manchmal wünscht man sich, die Stadtentwickler hätten Ruetz‘ Aufnahmen aus den neunziger Jahren zum Anlass für eine sensiblere Umformung Berlins genommen. Doch das ist nicht sein Thema.

„Zeit nimmt keine Rücksicht auf Veränderung“, konstatiert der Fotograf. Sein Blick ist dokumentarisch, die Kamera unbestechlich. Die Empathie seiner Porträts sucht man vergeblich, auch wenn Ruetz sich durchaus über die zerstörerische Kraft der Investoren ereifern kann. Bekannt ist er für seine Bilder von Joseph Beuys, teils hat er in der Düsseldorfer Akademie, teils beim Künstler zu Hause fotografiert. Hinzu kommen zahlreiche Bücher, etwa „Auf Goethes Spuren“, über die „APO Berlin“ oder „The Family Of Dog“.

Wo ist das Biotop Berlin?

„Timescapes“ macht nicht als erstes Projekt die flüchtige Zeit anhand konkreter Marken sichtbar. Aber es ist ein Großprojekt, reicht bis nach Rotterdam oder ins Brennertal, nach Leipzig wie Dresden. Es ist einzigartig, weil die Transformation nahezu aller dokumentierten Orte sämtliche vorherigen Zustände auslöscht und, gerade in Berlin, immer noch fortschreitet. Und es überwältigt einen, was man in der ebenso präzisen wie ästhetisch überzeugenden Ausstellung sieht.

Die „Timescapes“, ein Kunstwort, werden zur Zeitreise, die viel über die Hauptstadt erzählt. Ohne dass Michael Ruetz die Stimme erheben müsste. Seine Bilder genügen, um über Stadträume, ihre repräsentativen oder soziologischen Funktionen nachzudenken. Und über das Biotop Berlin, aus dem ein Paradies für Investoren geworden ist. Das alles geschieht ohne Nostalgie, aber doch mit einem flauen Gefühl.

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