zum Hauptinhalt

Kultur: Die Welt zwischen Tönen

Thomas Gerwin, der neue Leiter des Festivals Intersonanzen, will im Herbst das gesamte Sans Titre mit Klangkunst bespielen

Bei Thomas Gerwin gerät selbst das schnöde Formulieren eines Förderantrags zur Komposition. Der 62-Jährige ist überhaupt immer am Komponieren – am besten auf allen Kontinenten gleichzeitig. Der etwas eigentümliche Begriff des Tausendsassas – auf Thomas Gerwin passt er perfekt. Ein Beispiel: Gerade spielte er als Live-Elektroniker in der Berliner Konzertreihe Unerhörte Musik, da verfolgt er parallel ein Projekt über Wasserklänge im chilenischen Valparaiso. Auch ist er Gastkünstler in Toronto, wo er ein Stück für Laptop-Orchester komponiert hat. Und Gerwin leitet in Berlin-Wedding das Institut für multisensoriale Kunst und auch noch das dortige Internationale Klangkunstfestival im September. Derzeit aber sieht man Gerwin öfter in Potsdam, wo er die Fäden für die Intersonanzen spinnt. Denn erstmals leitet er in diesem Jahr das Festival für Neue Musik, das Ende Oktober stattfinden wird. Und um den Taumel mit den Terminen und den Orten noch zu verstärken, reist er regelmäßig mit seinen eigenen Klanginstallationen quer durch die Republik.

Nebenbei hat Thomas Gerwin also einen neuen Förderantrag für die Intersonanzen verfasst – nachdem der vorherige, den der Brandenburgische Verein für Neue Musik e.V. (BVNM) erstellte, bei der Jury der Stadt durchgefallen ist, weil zu unkonkret, und das dreitägige Festival in diesem Jahr lediglich 20 000 Euro erhält. An den städtischen Geldern für dieses Jahr kann Gerwin zwar nicht mehr rütteln, aber vielversprechend ist sein erstes Programm als Festivalleiter dennoch. Wenige Wochen nachdem er im BVNM in einer Krisensitzung zu dessen neuem Vorsitzenden berufen wurde – „die bisherige ist, ziemlich verblüffend für uns alle, zurückgetreten. Plötzlich guckten mich alle an“ – wenige Wochen später stand das Programm für die Intersonanzen.

„Zwischen. Töne“ lautet das Gesamtthema. Nicht nur die oft beschworenen Zwischentöne in den Kunstwerken sind damit gemeint oder der musikalische Zwischenraum zwischen Konsonanz und Dissonanz, sondern auch das, was sich zwischen Menschen abspielt, wenn Musik entsteht, wenn Töne Klänge werden. Jede Veranstaltung, so hat Gerwin sein Festival komponiert, bezieht sich auf eine andere und zu jeder gibt es eine Gesprächsrunde mit den Künstlern und dem Publikum. Denn die Einschätzung mancher seiner Kollegen, „dass die Klangkunst suspekt wird, wenn sie zu viele Leute verstehen, die teile ich nicht“, sagt er. „Aber es soll natürlich etwas Besonderes sein. Die Intersonanzen erlebt man nur einmal im Jahr und da geht man hin und kann noch einen Monat darüber nachdenken, sich mit anderen austauschen.“

Besonders werden die Intersonanzen in diesem Jahr schon allein dadurch, dass sie nicht in der fabrik, sondern im Sans Titre stattfinden. Bislang waren sie nur einen Tag im Kunsthaus zu Gast. Das gesamte Gebäude will Thomas Gerwin bespielen, Klangkunst mit einbauen, Installationen, „um eine Verbindung zu schaffen zwischen dem Anschauen und dem Klang“, wie er sagt. „Ich bin sowieso ein Freund von vernetzten Konzepten.“

Diese Vernetzung, das Brückenschlagen, ist für ihn auch zwischen Klassik und zeitgenössischer Musik nötig. „Es ist eine komische Zeit heute, dass man denkt, man könne sich nur in der Welt Mozarts bewegen“, sagt er. Der Zuhörer soll neue Erfahrungen mit Musik machen, das ist Gerwins Grundanliegen, und das kann er mit Neuer Musik. Kunst ist für Gerwin eine wahrnehmungserweiternde Maßnahme.

Thomas Gerwin selbst hat Gitarre studiert und Musikwissenschaft in Tübingen, später Komposition in Stuttgart. Mit Klängen improvisiert habe er aber bereits im Alter von elf Jahren, sagt er. Eine Art Künstlerfreundschaft verbindet ihn mit Karl-Heinz Stockhausen, dem er als 19-Jähriger schrieb und mit dem er mentorengleich lange im Austausch stand. In Karlsruhe hat er Anfang der 1990er- Jahre das Zentrum für Kunst und Medien mitaufgebaut, heute eine renommierte Institution mit Museen und Forschungsinstituten an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft. In dieser Zeit hat Gerwin für sich auch die akustische Ökologie entdeckt, Soundscape, eine interdisziplinäre Wissenschaft, die sich mit Klangforschung, akustischer Kommunikation und Klanggestaltung befasst. „Ich hab gemerkt“, sagt Thomas Gerwin, „dass man als Komponist nicht nur Öhrchen kitzelt, sondern auch eine gesellschaftliche Verantwortung hat, welche Töne man in die Welt entlässt – und überhaupt, wie es klingt auf der Welt.“ Klangkunst kann bei Gerwin auch Einladung zur Stille sein.

Im Sans Titre aber sollen sich die Klänge künftig mehren. Denn Gerwin, Tausendsassa, der er ist, will eine neue Reihe für experimentelle Musik aufbauen. Er plant Tele-Konzerte, bei denen via Internet andere Klangkünstler, sei es in Toronto, San Francisco oder Peking, zugeschaltet sind. Das aber ist wirklich noch Zukunftsmusik. Grit Weirauch

Grit Weirauch

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false