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Nöte des Nichtstun. Doralice (Melanie Straub) im Tanz mit dem selbstverliebten Hilmar (Dennis Herrmann, beide vorn).

© HL Böhme

Kultur: Die sogenannte Freiheit

Ausgerechnet mit dem schwülen Belle-Epoque-Roman „Wellen“ zeigt Barbara Bürk am Hans Otto Theater, wie man ganz unangestrengt gutes zeitgenössisches Theater macht

Überraschungen sind naturgemäß immer da am größten, wo man sie am wenigsten erwartet. Mit den ersten Krokussen im Schnee ist das so, und auch mit der jüngsten Inszenierung am Hans Otto Theater. Denn wer hätte gedacht, dass das Theater gerade aus einem schwülen Jahrhundertwende-Roman um eine Gesellschaftsschicht, die sich schrecklich langweilt und es heute nicht mehr gibt, einen ungemein lebendigen und vor allem zeitgemäßen Abend zaubert? Zumal die Vorlage von einem Autor stammt, der so regelmäßig von den Feuilletons „wiederentdeckt“ wie dann wieder vergessen wird. Die Rede ist von Eduard von Keyserlings Roman „Wellen“ von 1911. Es geht um die zwischen Trägheit und Überspanntheit pendelnde Seelenlage einer Gruppe Adeliger, die an der Ostsee die Sommerfrische genießt. Die Regisseurin Barbara Bürk hat den Roman in einer eigenen Bearbeitung auf die Bühne geholt – ganz frei vom Staub und Schwulst vergangener Zeiten.

Zitate der „Belle Epoque“ lauern in vielen Details in den Kostümen, sie streunen durch die Inszenierung, als hätte sich die Ausstattung ironisierend einer Art Bringschuld verschrieben, die sie spielerisch hier und da erfüllt. In den bauschigen Röcken etwa lungert das zwiespältige Verhältnis der Jahrhundertwendler zum (eigenen) Körper, im Frack das Ideal der selbstkontrollierten Männlichkeit. Auf der kargen Bühne (Anke Grot) aber erinnert nichts an das Gestern, das der Roman heraufbeschwört: ein leeres Podest mit Parkettboden, ein paar einfache Schreibtische links und rechts, dazu Schalenstühle. Am Rande kann man den Schauspielern beim Umziehen zusehen.

Das Ganze erinnert am ehesten an jene verlassenen Strandpromenadenbühnen, wo Laienblaskapellen und Kinderchöre in besseren Zeiten einst zur Erbauung sonnenverbrannter Gäste ihr Bestes gaben. Keyserlings Figuren jedoch spielt keine Blaskapelle auf, ihre Lieder müssen sich die Beteiligten selber singen; es herrscht die Langweile. Vor allem Gräfin Doralice (Melanie Straub) erfährt diese in ihrer ganzen Zähigkeit. Diese Gräfin ist mit dem nichtadeligen Hans Grill (Raphael Rubino) vor ihrem betagten Gatten ans Meer geflüchtet und lernt hier die Nöte des Nichtstuns kennen – und der bürgerlichen Zweisamkeit. Gegen das Nichtstun kann man wie Grill anmalen oder wie Doralice Kostümeskapaden setzen. Oder man kann sie, wie die anderen Strandgäste auch, mit fiebernder erotischer Fantasie kompensieren. Was aber tun mit der Bürgerlichkeit, der selbst auferlegten sogenannten Freiheit, die bleibt, wenn man die Konventionen des Adels hinter sich gelassen hat? Dazu später.

Grill und Doralice werden als enfants terribles von der sommerfrischelnden Noblesse zunächst kritisch und neidvoll beäugt. Diese Noblesse trägt so verschwobelte Namen, dass einem der Staub der Etikette förmlich in der Nase juckt. Da ist Generalin Palikow, bei Rita Feldmeier ein so komischer wie sanfter Drachen, der mit Tochter Baronin Bella Buttlär (Franziska Hayner) ihre „Festung“ der adeligen Sittlichkeit gegen Gräfin Doralice aufrechtzuhalten sucht. Da ist außerdem Baron Rolf Buttlär, bei Bernd Geiling ein galanter Meister des schmierigen Lächelns, worin er vom künftigen Schwiegersohn, dem vor Testosteron sprühenden Hilmar von dem Hamm (großartig sportiv und selbstverliebt: Dennis Herrmann), ernsthafte Konkurrenz erhält. Hilmar ist zwar mit der gutherzigen Lolo (großartig überreizt: Elzemarieke de Vos) verlobt, verfällt aber wie alle zusammen der grazilen Gräfin.

Melanie Straubs Gräfin ist eine Porzellanpuppe auf Pumps, man kann sie hervorragend bewundern, aufheben und herumtragen. Und die Männer tun es auch. Sogar der buckelige Geheimrat Knospelius (Christoph Hohmann), der mit jähem Möwen-Lachen die Gesellschaft erschreckt, wird zuletzt sein Glück bei ihr versuchen.

Zu den lässigen Beats, meist aufgelegt von Fräulein Malwine Bork (am Piano ebenso formvollendet wie am DJ-Pult: Markus Reschtnefki) knoten die blumig benannten Figuren ihre Beine ineinander, oder singen sehnsuchtsvoll von ihrem Verlangen. Mal mit Franz Schubert, mal mit Charles Trenet, mal mit einfachen Worten. „Wie die Hühner“ zum Beispiel, sehr gefühlvoll vorgetragen von Raphael Rubino. Das ist ganz zeitgenössische Regiekonvention. Aber, und das ist das Besondere, insgesamt doch viel mehr als eine Nummernshow, die Musik mehr als nur Klebemasse. Die Regie jongliert so unaufgeregt mit ihren Mitteln, dass Lieder und Textpassagen federleicht ineinanderfließen, fast möchte man sagen: ineinanderatmen. Barbara Bürk und ihre Spieler schaffen es, den unverstellt schwülen Text auf eine Art zu ironisieren, dass man tatsächlich meint, Keyserling habe seinem Buch die Ironie bereits eingeschrieben. Noch so ein selbstverständlich vorgebrachtes Kunststück: Die Regie lässt die Figuren über sich selbst in der dritten Person sprechen, ohne sie zu denunzieren oder das Ineinander von Text und Musik aufzubrechen. Die auf der Bühne werden sich selbst fremd, und gerade dadurch denen vor der Bühne nah.

Schließlich also die Sache mit der Freiheit. Vor Grills Traum vom Einfamilienhaus in München lässt es sich nicht so einfach davonlaufen wie vor einem zu alt geratenen Ehemann. Das in „freier Liebe“ lebende Pärchen Doralice und Grill sollte unkonventionell und glücklich sein und ist doch beides nicht. Die Szenen zwischen dem verzagten Grill, der wortreich versucht, seine Angebetete auf das Hausfrauenformat zu bringen, in dem er sie dann endlich völlig verstehen und also vereinnahmen könnte, gehören zu den komischsten des Abends. Sie sind auch die berührendsten. Denn wenn er von der Freiheit schwätzt, die in einer solchen Entscheidung für den Haushalt stecke, und sie erwidert, sie könne doch nicht den ganzen Tag dem Hauswesen ihr Gepräge geben, dann macht die Wortwahl zwar Lachen. Und doch sind wir sind in der Sache – der Frage: Wie glücklich miteinander leben? – längst nicht mehr nur im Jahr 1911.

Es heißt, Keyserling habe schon zur Entstehungszeit des Romans nicht mehr an das Gestern geglaubt, das er beschreibt. Diese unsentimentalen, zeitgemäßen „Wellen“ zeigen: Es gibt sehr wohl Dinge darin, die können noch heute wehtun.

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