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Entmenschlicht und zur Selbstaufgabe gezwungen. Einer der Insassen, die Ma Li in ihrer Doku begleitete.

© Ma Li

Psychiatrie-Doku im Forum: Die Klinik als Gefängnis

Ein Jahr drehte Regisseurin Ma Li in einer geschlossenen Anstalt in China. Ihr Film „Qiu“ zeigt, wie Menschen dort ihre Würde und Individualität entrissen wird.

Vor 50 Jahren drehte der Meister des Cinéma direct, Frederick Wiseman, seinen ersten Film über psychisch kranke Kriminelle. Die Behandlung jener „Titicut Follies“ – brutale Folter. Die Behandlung dieser „Qiu“ in dem Film von Ma Li über Insassen einer Psychiatrie – so etwas wie „joviale Folter“. Drei Monate verbrachte die Regisseurin in der geschlossenen Anstalt für Schizophrenie-Kranke im Norden Chinas, um ihnen ihr Vorhaben zu erklären. Die anschließenden Dreharbeiten dauerten über ein Jahr.

Die Hierarchie ist schnell klar: Die da oben, Direktoren und Chefärzte, kontrollieren alles aus dem Hintergrund. Der Mittelbau der Schwestern und Pfleger sorgt mit falscher Freundlichkeit, Pillen und Spritzen für Ruhe und Ordnung. Danach kommen die Wärter, wenn doch mal einer den Ablauf stört und ans Bett gefesselt gehört. Ganz unten stehen die „Patienten“: Vor der Kamera dürfen sie alles erzählen, in der Anstalt haben sie nichts zu sagen. Einem, der neu eingeliefert wurde, wird sogar untersagt, mit seiner Frau zu sprechen. Auf ihre Initiative wurde er hier reingebracht, so ist sie die Allerletzte, die ihm da wieder heraushelfen wird. Also vertröstet sie ihn auf die Ärzte.

Die Gebote der "Wissenschaft", das Leid der Insassen

Ein anderer zählt die Monate und Wochen und Tage, bis er glaubt, seine Entlassung stünde dicht bevor. Und einer fristet hier schon seit Jahren sein Leben und redet zeitweise nur noch unverständlich vor sich hin. Ohne Kommentar, ohne Zwischenfragen muss der Zuschauer diese Fragmente verarbeiten und spürt hilflos und entsetzt, dass im Grunde alle in einen Zustand der Selbstaufgabe hineinmanövriert werden.

Dieser Schauplatz vereint nicht Kranke und Heiler, sondern trennt Opfer und Täter. Er trennt zwischen Wahn und Wirklichkeit, kranken Insassen und gesunder Gesellschaft. Erstes Gebot der „Wissenschaft“ ist: Jeder Kranke hält sich für gesund. Das mag ja noch stimmen, aber das zweite Gebot macht aus der Anstalt ein Gefängnis: Jeder, der sich für gesund hält, beweist damit, dass er verrückt ist. Was immer da einer für sich vorbringt, es wird gegen ihn verwendet. So nimmt man den Kranken die Würde, jedes Anrecht auf ein individuelles Schicksal. Gleiche Kleidung, gleiche Zimmer, niemand besitzt etwas Persönliches, jede Erinnerung an ein früheres Leben wird weggewischt. Eine tragédie humaine in 280 Minuten.

15.2., 16.30 Uhr (Cinestar 8), 17.2., 19.30 Uhr (Cinemaxx 4), 19.2., 16.30 Uhr (Delphi)

Helmut Merker

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