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Kultur: „Der Tod bedeutet kein Ende“

Hanns-Josef Ortheil, in diesem Jahr Writer in Residence der Lit:potsdam, über Schreiben als Odyssee – und Rettung

Herr Ortheil, in Ihrem Buch „Der Stift und das Papier“ beschreiben Sie, wie Sie als kleiner Junge mit Ihrem Vater tägliche Schreibübungen machten. Kein Tag vergeht seitdem, ohne dass Sie Tagesnotizen machen. Grob gerechnet müssten Sie heute rund 20 000 solcher Blätter mit Beobachtungen und Aufzeichnungen Ihres täglichen Lebens gesammelt haben. Was machen Sie eigentlich damit?

Die Zahl ist viel höher. Ich habe mir anlässlich der Niederschrift von „Der Stift und das Papier“ einen ungefähren Überblick verschafft und bin auf 440 000 Seiten gekommen. Der tägliche Schreibprozess ist übrigens heute noch derselbe wie in der Kinderzeit. Das meiste schreibe ich nicht fürs Veröffentlichen, sondern für mich selbst. Es gibt ein chronikalisches Schreiben, es gibt ein Journal, und es gibt ein Tagebuch. Ich beobachte Menschen und Dinge in meiner Umgebung, ich kommentiere Texte oder Fotos aus Zeitungen, es ist eine sehr spielerische Arbeit. Mit den Jahren sind diese täglichen Aufzeichnungen immer mehr geworden.

Wie arbeiten Sie mit dem Material?

Ich bin da pedantisch und akribisch. Ich hefte die Seiten ein, sie kommen in Ordner, Alben oder Skizzenbücher. Manche Aufzeichnungen sind Einfälle für größere Projekte, die entwickeln sich dann manchmal über Monate und Jahre.

Das Schreiben hat für Sie immer etwas Dokumentarisches. „Schreiben entsteht nicht im Kopf, sondern ist ein Aufschreiben“, heißt es in Ihrem Buch „Das Element des Elephanten“. Halten Sie nichts von erfundenen Geschichten?

Ich halte schon viel davon. Aber ich kann selbst nichts ,erfinden’. Mein Schreiben gerät erst in Bewegung, wenn ich von etwas intensiv Erlebtem ausgehe, das ich schreibend genauer erforsche. Das Schreiben ist dann ein Versuch, genauer herauszubekommen, mit was ich es im Leben zu tun habe und wie diese Welt um mich herum beschaffen ist. Rein Erfundenes lässt mich relativ kalt und bleibt abstrakt. Das kommt wohl daher, dass das Schreiben in meinem Fall so stark und untrennbar mit den frühen Kinderjahren verbunden ist. Von da nimmt es seinen Ausgang, in Räumen außerhalb erlebter und geprägter Zonen kann ich mich kaum bewegen.

Sie waren von Ihrem dritten bis sechsten Lebensjahr stumm. Es war die Reaktion eines Kindes auf eine ebenfalls stumme Mutter, die vor Ihrer Geburt vier Kinder verloren hatte. Sie waren das erste und einzige Kind, das überlebte. Ihr Schreiben kreist immer wieder um diese Erfahrung. Hat Sie das Schreiben gerettet?

Man muss sich das so vorstellen, dass es zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr für mich keine klar geordneten Welten gab. Ich begriff nicht, was um mich herum geschah, denn ich konnte es sprachlich nicht festhalten. In meinem Kopf war alles diffus, es strukturierte sich nichts, die Wahrnehmung war trüb, unscharf, verschwommen. Die Zeit verging, und ich spürte nicht, wie sie verging. Das war sehr beängstigend. Von dem Augenblick an, als ich schreiben lernte, habe ich begriffen, worin für mich die große Leistung des Schreibens bestehen könnte: Die Welt nimmt Gestalt an, ich kann die Details und die Veränderungen in meinem Leben überblicken und dokumentieren. Und genau daran habe ich mich in meinem ganzen bisherigen Leben gehalten. Das mag kurios erscheinen, aber es ist so. Wenn ich heute einen Tag nicht dazu komme, etwas aufzuschreiben, werde ich sehr unruhig. Ich muss dann sofort einen freien Moment finden, um zu schreiben und zu notieren, was passiert ist. Es gibt also noch immer diese Angst vor dem Verlust des Überschauens und Begreifens, diese Angst ist elementar.

Noch stärker als die Sprache hat Sie, wie Sie schreiben, die Musik gerettet und mit der Welt verbunden. Inwiefern?

Ich habe mich oft mit dem Verhältnis von Musik und Sprache beschäftigt, so etwa in meinem Buch über Mozart – „Mozart im Innern seiner Sprachen“. Da habe ich mich gefragt, wie Mozart gesprochen, geschrieben und komponiert hat. Das waren für ihn Ausdrucksmittel mit vielen gegenseitigen Übergängen. In meinem Fall ist es ganz anders: Sprache ordnet die Welt und ermöglicht mir einen direkten Zugriff sowie eine intensive Anteilnahme, aber sie schafft es nicht, die geheimsten oder stärksten emotionalen Regungen wiederzugeben. Etwa die Subtilität von Empfindungen wie Trauer oder Freude. Wenn ich das sprachlich formulieren wollte, müsste ich vor dem – sagen wir – ersten Satz von Schumanns Klavierkonzert kapitulieren. Die Musik ist erheblich vielfältiger und reicher. Da reicht die Sprache nicht heran. Dennoch habe ich immer versucht, klangvoll zu schreiben und musikalische Strukturen auf Texte zu übertragen. In diesem Sinne „höre“ ich mein Schreiben klingen, Rhythmen gestalten, Motive entwickeln.

Daneben ist Schreiben für Sie auch eine Art Totenbeschwörung. In „Das Element des Elephanten“ verwenden Sie die Fahrt des Odysseus ins Totenreich als Metapher für Ihr Schreiben – ein Prozess, bei dem Sie mit den Verstorbenen in Kontakt treten. In Kindertagen stand Ihnen der große tote Bruder als innere Stimme beiseite. Hat sich das mit den Jahren verändert?

Nein, das hat sich nie verändert. Ich sehe das Schreiben eingebettet in einen kommunikativen Kontext, der in meine Vorvergangenheit reicht. Bis zu den Leben meiner Großeltern und Eltern, bis zu den Leben meiner vier Brüder. Manchmal habe ich das Gefühl, ich müsste den Verstorbenen Bericht erstatten von meinem Leben.

Spielt umgekehrt dieses ungelebte Leben Ihrer Brüder bei Ihnen auch eine Rolle?

Ja. Ich überlege oft, wie sich mein Leben wohl abspielen würde, wenn meine Brüder noch am Leben wären. Ich reagiere auf ihre anscheinende Ferne sehr stark. Oft glaube ich sogar, einen Kontakt zu spüren. Und das färbt ab auf mein Schreiben. Denn schreibend bin ich nicht allein, sondern Teil einer größeren familiären Gemeinschaft. Der Tod hat für mich dadurch eine andere Bedeutung als im normalen Sinn. Er bedeutet kein Ende. Das Leben der Familienmitglieder, die vor mir gelebt haben und jetzt tot sind, ist mit meinem Leben vielmehr eng verbunden. Sie haben einen starken Einfluss auf mich, ich führe viele ihrer Lebensthemen weiter.

Das hat etwas sehr Spirituelles.

Vielleicht, ja, aber vor allem hat es etwas sehr Tröstliches, wenn der Tod keinen Bruch mit dem Leben bedeutet, sondern das Leben der Verstorbenen sich in den Leben der Nachgeborenen fortsetzt und neu hervorbringt. Als Nachgeborener lebe ich in einem viel älteren Raum als dem der Gegenwart, ich lebe auch in Vor- und Frühgeschichten, übrigens auch ganz real und physisch. Von den Lebensräumen meiner Kindheit in Köln und dem Westerwald habe ich mich nie ganz entfernt. Und wenn ich an größeren Schreibprojekten arbeite, sitze ich oft in genau jener Jagdhütte, in der ich, angeleitet durch meinen Vater, schreiben gelernt habe. Es gibt eine Kontinuität der Erlebnisräume, das Leben fängt nicht mit jeder Generation „neu“ an. Eine solche Vorstellung fände ich furchtbar.

Ist diese Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht irgendwann abgeschlossen und eines Tages alles aufgeschrieben?

Nein, das glaube ich nicht. Ich habe vielmehr das Gefühl, mich immer weiter und intensiver in diesem Kosmos zu bewegen und immer neue Stoffe zu akquirieren, die damit zusammenhängen. Ich habe zum Beispiel drei historische Romane geschrieben, bei denen man sich auf den ersten Blick fragen würde, was die nun mit meinem Leben und seinen Erlebnisräumen zu tun haben. Es gibt aber Personen und Gestalten der Geschichte, die mir wie enge Freunde sehr nahe sind, und zwar auch dann, wenn sie vor zweihundert Jahren gelebt haben.

Sie sind kommende Woche der Writer in Residence der Lit:potsdam. Haben Sie eine Verbindung mit dieser Stadt?

Ja, die habe ich. Berlin und Potsdam sind ja zwei sehr unterschiedliche Räume. Zu Berlin habe ich immer ein etwas kritisches Verhältnis gehabt. Meine Eltern haben die Kriegsjahre in Berlin verbracht und hatten später zu Berlin ein fast traumatisches Verhältnis. Davon habe ich auch eine Spur mitbekommen. Denn ich war zwar oft berauscht von der „Berliner Präsenz“, wie ich es immer genannt habe, dann aber auch froh, wenn ich wieder fort war. In Berlin fand ich den geschichtlichen Kristall, von dem aus ich die Stadt hätte erschließen können, nicht. In Potsdam ist das anders. Ich brauche, um mit Städten in einen intensiveren Kontakt zu geraten, das Gefühl, mich in einem konturierten historischen Raum zu bewegen. Und wenn dieser Raum noch mit einem sehr schönen Naturraum verbunden ist, ergibt sich ein geradezu ideales kulturelles Gesamtkunstwerk, das fast immer „heimatlich“ wirkt. Diesen Zusammenklang von Geschichte, Natur und Kultur vermisse ich oft in deutschen Städten. Potsdam aber bietet ihn, in großer Fülle.

Das Gespräch führte Grit Weirauch

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