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Kultur: Der Mann ohne Gedächtnis

Holger Hof stellte in der Kleist-Schule seine neue Gottfried-Benn-Biografie vor

Nicht viele Klassiker der Moderne haben bis heute so wenig von ihrer Strahlkraft verloren wie Gottfried Benn. Das nach wie vor ungebrochene Interesse für den Dichter bestätigt auch der große Publikumsandrang am Freitagabend in der Kleist-Schule, als der Berliner Autor Holger Hof seine im vergangenen Jahr im Stuttgarter Klett-Cotta Verlag erschienene Schriftstellerbiografie „Gottfried Benn – Der Mann ohne Gedächtnis“ vorstellt. Und obwohl es an Biografien über diesen Expressionisten wahrlich nicht mangelt, ist Hofs Buch keineswegs nur eine Ergänzung mit anderer, werkimmanenter Schwerpunktsetzung, sondern das bislang umfassendste und detailreichste Lebensbild Gottfried Benns.

Holger Hof, der sich seit über 20 Jahren mit dem Werk und dem Nachlass des Dichters beschäftigt und Mitherausgeber der Stuttgarter Gottfried-Benn-Ausgabe ist, konnte bei seiner dreieinhalbjährigen Arbeit an dieser Biografie aus seiner privaten, einzigartig umfangreichen Datenbank schöpfen und darin erstmals auch die insgesamt 39 Tageskalender systematisch einarbeiten, in denen Gottfried Benn von 1934 an bis zu seinem Todesjahr 1956 seinen Alltag in kurzen, oft schwer lesbaren Notizen festgehalten hat. Da diese Eintragungen, neben wenigen überlieferten Briefen, das einzige schriftliche Zeugnis aus jenen Zeitabschnitten sind, in denen Benn als Dichter über Monate hinweg „verstummt“ ist, schließen diese Notizen bisherige Lücken in Benns Biografie. Für Hof hat sich im Zuge seiner akribischen Auswertungen bald ein Muster aus Krise und Neubeginn herauskristallisiert, das in Benns Leben ständig wiederkehrt. Dank der Fähigkeit, die Tiefpunkte seiner Existenz überwinden und auch vergessen zu können, wird der Dichter für den Biografen zum „Mann ohne Gedächtnis“, zum Menschen, für den die Krise zu einer Triebkraft, einem Lebensprinzip geworden ist. Deshalb hat Holger Hof in seiner Biografie auch exemplarisch die Jahre 1943-1945 vorangestellt, jene Zeit, in der der Mediziner Gottfried Benn als Oberstabsarzt im besetzten Polen stationiert war und die mit der Flucht nach Berlin und dem Zusammenbruch Nazideutschlands endete. Hof liest an diesem Abend das gesamte Kapitel vor und entfaltet vor den Zuhörern besonders mit den nüchtern beschriebenen, doch sehr minutiösen Schilderungen des Chaos in der zerbombten Ruinenstadt Berlin ein eindringliches Schreckensszenario. Als sich wenige Monate nach Kriegsende Benns Ehefrau das Leben nimmt, ist der Nullpunkt in seiner Biografie erreicht. Doch im September 1945 nimmt der Dichter seine Arbeit wieder auf. Mit den „Statischen Gedichten“ entsteht nun sein Spätwerk, beginnt die Zeit seiner größten Wirkungsmacht und avanciert er zum Übervater der deutschen Nachkriegsliteratur.

Während der Potsdamer Lesung wird schnell klar, worin die Stärke in Hofs Benn-Biografie liegt. Durch die ständige Montage der täglichen Privatnotizen in die dennoch erstaunlich flüssig lesbare Biografie und gänzlich frei von einer Werkdeutung gelingt Holger Hof die bislang deutlichste Zeichnung dieses schwierigen Menschen und großen Dichters Gottfried Benn. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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