zum Hauptinhalt
Edvard Munch, Selbstbildnis (mit skelettiertem Arm), 1895

© Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Jörg P. Anders

Das Verborgene sichtbar machen: Wie Edvard Munch in Berlin zur Grafik fand

Er war offen für neue Techniken – und setzte sie meisterhaft um. In der Ausstellung in der Berlinischen Galerie werden auch Drucke und Fotografien von Munch gezeigt.

Als Harry Graf Kessler sich 1895 von Edvard Munch in dessen Atelier zeichnen ließ, wurde er Zeuge einer Situation, die die prekäre Lebenssituation des noch wenig erfolgreichen Künstlers offenbarte: „Während der Sitzung kam eine energische junge Ladenmamsell mit einem Dienstmann und holte wegen 25 Mark Schulden die Staffelei fort. Die ganze Exekution dauerte zwei Minuten und hatte etwas Selbstverständliches“, notierte der Kunstsammler und Mit-Begründer der Jugendstil-Zeitschrift „Pan“ in sein Tagebuch. Sein Porträt stellte Munch trotzdem fertig, denn die Staffelei brauchte er dafür nicht. Er hatte gerade begonnen, sich mit den künstlerischen Mitteln der Grafik zu befassen.

Für seine Hinwendung zu neuen Techniken während des ersten Aufenthalts in Berlin von 1892 bis 1896 hatte Edvard Munch einen passenden Ort ausgesucht. Die Reichshauptstadt entwickelte sich zur modernen Metropole, das Stadtbild war geprägt von rasantem Wachstum in Verkehrswesen, Wirtschaft und Städtebau. In der Kunstszene formierte sich als Gegenpol zur konservativen, akademischen Malerei die „Vereinigung der XI“, ein Vorläufer der Berliner Secession. Die Fotografie gewann an Bedeutung, und im Wintergarten führten die Brüder Skladanowsky erstmals kurze Filmsequenzen vor.

Edvard Munch (Løten 1863 - 1944 Oslo): „August Strindberg“, 1896
Edvard Munch (Løten 1863 - 1944 Oslo): „August Strindberg“, 1896

© Kupferstichkabinett Staatliche Museen zu Berlin

Schon Munchs frühe grafische Arbeiten waren technisch sehr versiert und zogen bald die Aufmerksamkeit von Kunstkennern und -Liebhabern auf sich. Eberhard von Bodenhausen, Kunsthistoriker und wie Kessler Mitbegründer der Jugendstil-Zeitschrift „Pan“, schrieb 1894 nach dem Kauf einiger Radierungen in einem Brief an Munch: „Von ganzem Herzen danke ich Ihnen für Ihre freundliche Sendung, zu der ich nochmals gratulieren kann. Es scheint mir geradezu, als ob die Radierung Ihr eigentliches Gebiet sei, und ich zweifle nicht, daß bei einer noch weitergehenden technischen Vollendung auch der pecuniäre Erfolg sich einstellen wird.

Man ist versucht zu sagen, selbst wenn der Maler Munch nicht existiert hätte, der Graphiker hätte zu allen Zeiten als großer Künstler gegolten. Aber wir sagen es nicht und dürfen es nicht sagen, denn Munchs graphisches Werk ist mit seinem malerischen so eng verbunden, daß beide voneinander nicht getrennt werden können.

Jens Thiis, Kunsthistoriker und von 1908 bis 1941 Direktor der National Gallery in Kristiania (heute Oslo)

Der Kenner behielt Recht. „Der Durchbruch für Munch in Berlin erfolgte schrittweise nach seinem großen Auftritt in der Berliner Secession 1902“, erzählt Stefanie Heckmann, Kuratorin der Ausstellung „Edvard Munch. Zauber des Nordens“ in der Berlinischen Galerie. Ab 1903 stellte er regelmäßig im Kunstsalon Paul Cassirer aus, einer der ersten Adressen für moderne Kunst in Berlin. Als der Expressionismus sich Anfang der 1910er Jahre durchsetzte, sei Munch in Deutschland vollends etabliert gewesen und habe als einer der Vorreiter dieser Strömung gegolten.

Nach ersten Radierungen widmete Munch sich der Lithografie, einem Flachdruckverfahren, bei dem das Motiv seitenverkehrt auf einen speziellen Stein aufgebracht und mithilfe der sich abstoßenden Eigenschaften von Fett und Wasser gedruckt wird. Die Munch-Forschung geht davon aus, dass er sich die Technik bei der Zusammenarbeit mit den Berliner Druckereien aneignete. In Berlin gab es erfahrene Drucker, bei denen er vermutlich direkt vor Ort viel dazulernte.

Häufig verwendete Munch Motive aus seiner Malerei, etwa in der Lithografie „Der Tod im Krankenzimmer“ von 1896. Wie in der Malerei schuf er auch in seinen grafischen Arbeiten mit elementaren Themen wie Tod, Liebe und Angst eine starke emotionale Nähe zu den Betrachtenden, machte das „Unsagbare“ sichtbar. „Das war neu“, so Heckmann, „vor allem in Berlin, wo sich gerade erst der Impressionismus durchsetzte.“ Seine Fähigkeit, den fast unbeschreiblichen Moment dazustellen, in dem die Schwester stirbt und die Trauer die Hinterbliebenen erfasst, spricht für seine starke Empfindsamkeit. Nach heutigen Erkenntnissen würde man wohl sagen, er war hochsensibel.

© Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett / Volker-H. Schneider

Mit der eigenen Endlichkeit befasst Munch sich im „Selbstbildnis (mit skelettiertem Arm)“ von 1895, das ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Auf dem unteren Rand des Selbstporträts ist der titelgebende Arm abgelegt. Das helle Gesicht schaut die Betrachtenden frontal an und leuchtet fast vor dem tiefschwarzen Hintergrund. Mit der Reduktion auf wesentliche Formen und dem extremen Hell-Dunkel-Kontrast erhält dieses Selbstporträt eine außergewöhnlich starke Intensität und Ausdruckskraft. Das Schwarz wird nur unterbrochen von hellen Strichen, hervorgerufen durch Kratzer im Lithografie-Stein.

Spuren des Arbeitsmaterials sind auch in anderen Lithografien und Holzschnitten zu finden. Mit seiner Experimentierfreudigkeit nutzt Munch die Mittel der Grafik damit voll aus und verleiht seinen Arbeiten eine zusätzliche Gestaltungsebene. Für Stefanie Heckmann ist Munch als Grafiker grandios. „Aber auch als Maler ist er unfassbar innovativ“, sagt sie. „Ein Jahrhundertkünstler.“

Das wohl erste bekannte Selfie der Fotografiegeschichte

Offen für neue künstlerische Medien, interessierte Munch sich auch für die Fotografie. 1902, als das Fotografieren bereits für die breite Masse möglich war, kaufte er sich die Bull’s-Eye Kodak No. 2. Mit dem eingängigen Slogan „You press the button – we do the rest“ warb das amerikanische Unternehmen Eastman Kodak seit 1888 für die Amateur-Fotografie. Die handlichen Kameras waren relativ günstig und komplizierte Entwicklungsprozesse entfielen, da man die Kamera nach dem Fotografieren einfach einschicken konnte und sie einige Tage später mit den entwickelten Bildern zurückbekam.

Edvard Munch mit Pinsel und Palette am Strand (Warnemünde), 1907
Edvard Munch mit Pinsel und Palette am Strand (Warnemünde), 1907

© Munchmuseet Oslo

Munch, der sich hingezogen fühlte zu spiritistischen Deutungen, entwickelte seine Bilder zum Teil selbst, versuchte sich an Doppelbelichtungen. Fasziniert haben mag ihn dabei die Idee, dass die Kamera mit ihrem mechanischen Blick mehr zeigen könnte, als das menschliche Auge sah. Dieser Gedanke war nicht neu. Schon in der Frühzeit der Fotografie war die sogenannte Geisterfotografie populär. Sie machte mittels Doppelbelichtungen angeblich die Geister von Verstorbenen auf Porträts sichtbar.

Insgesamt sind von Edvard Munch 183 verschiedene fotografierte Motive enthalten, davon etwa 60 Selbstbildnisse, in denen er sich in unterschiedlichen Posen und Umgebungen darstellt. Seiner Zeit voraus war er offenbar auch auf diesem Gebiet. So schreibt man ihm das wohl erste (bekannte) Selfie der Fotografiegeschichte zu, entstanden 1908 während seines Aufenthalts in einer norwegischen Nervenklinik. Es ist allerdings nicht in der Ausstellung zu sehen.

Für den experimentierfreudigen Künstler unterlag die Fotografie jedoch zu vielen Einschränkungen. Sein Resümee: „Der Fotoapparat kann nicht mit dem Pinsel und der Palette konkurrieren – solange er nicht im Himmel und in der Hölle verwendet werden kann.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false