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Staatsballett Berlin: 2 Chapters Love (2023)

© CARLOS QUEZADA

Das Staatsballett Berlin in „2 Chapters Love“ : Körper-Verkettungen von skulpturaler Rafinesse

Das Staatsballett Berlin zeigt virtuose Choreografien von Sol Léon und Sharon Eyal, an denen man sich kaum sattsehen kann.

Von Sandra Luzina

Das Saallicht in der Staatsoper ist noch nicht erloschen, als Polina Semionova auf die Bühne schlendert. Die Ballerina scheint aus der Garderobe getürmt zu sein, trägt sie doch nichts als ein schwarzes Jackett. Sie lässt sich an der Rampe nieder, schlägt die nackten Beine übereinander und streift sich schwarze Highheels über. Eine doch arg überstrapazierte Geste aus dem Repertoire weiblicher Verführungskunst.

Doch plötzlich entgleisen ihr die Gesichtszüge, sie fuchtelt mit den Händen, ein Arm schießt wie ein Pfeil nach vorn. Zu dem Song „Don't Cry Baby“ von Etta James morst die kapriziöse Frau geradezu obsessiv Zeichen an ihre Umgebung. Matthew Knight taucht aus der Versenkung auf und hält ihr die Spalte einer Wassermelone hin. Begierig beißt sie hinein, als wolle sie von einer verbotenen Frucht kosten.

Polina Semionova in mottiger Mehlwolke

© CARLOS QUEZADA

Virtuose Beschwörung des Wunderlichen

Zum Auftakt des zweiteiligen Ballettabends „2 Chapters Love“ zeigt die Choreografin Sol Léon „Stars like Moths“. Die Spanierin war mehr als 30 Jahre dem Nederlands Dans Theater verbunden. Zusammen mit ihrem Partner Paul Lightfoot hat sie über 60 Stücke für die Kompanie entworfen. „Stars like Moths“ ist eine ihrer ersten Soloarbeiten. Das Stück mit dem rätselhaften Titel ist eine Reflexion über Vergänglichkeit. Die flüchtigen Begegnungen in einem Ballettsaal tendieren alle ins Wunderliche und Skurrile.

Danielle Muir & Martin ten Kortenaar in Stars Like Moths

© CARLOS QUEZADA

Bei den Duetten bedient sich Léon einerseits der virtuosen Technik der Balletttänzer. Zu einer Collage aus Barockmusik und Neoklassik baut sie aber immer wieder kleine Störungen ein, die die Form aufbrechen. Die Tänzer fuchteln mit den Armen, strecken die Zunge raus, brabbeln vor sich hin oder rufen „Mama“. Musikcollage aus Barockmusik und Neoklassik. Diese Tänzer sind keine schmetterlingsgleichen Geschöpfe, sondern herumschwirrende Motten.

Haruka Sassa und Jan Kasier in Stars like Moths

© CARLOS QUEZADA

Das Schöne und das Hässliche im Einklang

Das Schöne und das Häßliche finden in Sol Léons Kosmos gleichermaßen Platz. Polina Semionova wird schon mal mit Mehl überschüttet. Doch wirklich dadaistisch und absurd mutet dieses Nachtfalter-Ballett nicht an.

„2 Chapters Love“ von Sharon Eyal schlägt dann sofort in den Bann. Die israelische Choreografin hat ihr Stück „Love Chapter 2“, das sie 2017 für ihre Tanzcompany „L-E-V“ schuf, für das Staatsballett überarbeitet. Die neue Kreation wirkt wie maßgeschneidert. Zu hautfarbenen Trikots tragen hier alle 26 Tänzer ein Diadem aus Strass – im Ballett ist dies nur den Ballerinnen vorbehalten. Die Tanzstücke, die Sharon Eyal zusammen mit ihrem Partner Gai Behar kreiert, sind von der Clubkultur inspiriert.

Vortänzerin Danielle Muir in 2 Chapters Love

© CARLOS QUEZADA

Diesmal greift sie aber stärker als je zuvor auf das Vokabular des klassischen Tanzes zurück, bezieht sich auch auf die Geschichte des Balletts. Die 26 genderfluiden Tänzer sehen einerseits wie extravagante Raver an, sie muten aber auch wie Wiedergänger der verzauberten Geschöpfe aus „Schwanensee“ oder „La Bayadère“ aus. All die unglücklichen Liebesgeschichten des romantischen Balletts scheinen sie sich einverleibt zu haben.

Wie maßgeschneidert für das Staatsballett: 2 Chapters Love von Sharon Eyal

© Staastsballett Berlin Promo/CARLOS QUEZADA

Dekonstruktion und Hymne auf das Ballett zugleich

Die fabelhafte Danielle Muir ist die Vortänzerin, die sich extrem verbiegt und bisweilen wie eine indische Göttin aussieht. Die anderen Tänzer treten im Pulk auf, dicht aneinander gedrängt. Sie bewegen sich, als seien sie ein Körper, nehmen den Groove von Ori Lichtiks Soundtrack auf, werden zu Sklaven des Rhythmus. Die Musik wird richtig aufgedreht, der Klassiktempel wird zum Club. Fantastisch, wie sich das Ensemble zwischen Disziplin und Ekstase bewegt. In den repetitiven Bewegungsmustern lassen sich viele überraschende Details ausmachen. Man kann sich gar nicht satt sehen an diesen Körper-Verkettungen, die eine skulpturale Raffinesse besitzen.

Skulpturale Körper-erkettungen in 2 Chapters Love

© CARLOS QUEZADA

Sharon Eyal gelingt etwas Erstaunliches: „2 Chapters Love“ ist eine Dekonstruktion und zugleich eine Hymne auf das Ballett. Es ist keineswegs so düster wie das frühere Stück. Eyal setzt dem Herzschmerz nun die Krone auf.

Das Staatsballett Berlin setzt auf weibliche Handschriften beim Ballettabend „2 Chapters Love“. Kombiniert werden Werke von zwei renommierten Choreografinnen. Sol Léon, die mehr als 30 Jahre dem Nederlands Dans Theater verbunden war, schuf mit „Stars like Moths“ erstmals ein Stück für das Staatsballett Berlin. Die israelische Choreografin Sharon Eyal arbeitete für „2 Chapters Love“ bereits zum dritten Mal mit der Berliner Compagnie zusammen.

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