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Wilde, Raue, Fremde? Die mythische Medea-Figur ist im Laufe der Jahrtausende mit allerhand Klischees versorgt worden. Erst Euripides machte sie auch zur Kindermörderin. „Als wollte er dem Matriarchat eines auf den Deckel geben“, sagt Marianna Linden. Sie spielt in „Das goldene Vlies“ jetzt Potsdams Medea.

© Andreas Klaer

„Das Goldene Vlies“ im Hans Otto Theater: Die Kriegerin

Endlich mal wieder eine klassische Tragödie am Hans Otto Theater: Heute hat Grillparzers „Das Goldene Vlies“ Premiere. Marianna Linden spielt darin die finstere Mythosgestalt Medea.

Potsdam - Medea lebt. Seit der Antike durchwandert sie Erzählungen, Bilder und Stücke. Sie fordert Künstler aller Zeiten heraus, sich an ihr zu reiben, an ihr zu stoßen, über sie zu meditieren. Weil sie natürlich wie alle griechischen Mythengestalten archetypisch genau die seelischen Qualen und Abgründe verkörpert, die allen Menschen bestimmt sind. Und sie fasziniert die – über die Jahrhunderte vor allem männlichen – Künstler, weil sie gleichzeitig so abstößt. Weil sie für etwas Antiweibliches steht. Ihre eigenen Kinder tötet. Noch nicht einmal im Affekt, sondern aus kühler Rache an Jason, den sie liebt und der sie für eine andere verlässt.

Ein Symbol für die menschliche Gier

Als unabhängig, stark und vor allem schuldlos sieht sie nur eine Künstlerin: In Christa Wolfs „Medea. Stimmen“ hat sie keine Verbrechen begangen, sondern wird – als Fremde, vermeintliche Wilde –, verleumdet, ausgegrenzt, zum Sündenbock gemacht. Nicht nur für die Gräuel anderer, sondern auch für eine in Korinth wütende Seuche. In Korinth, das sich als zivilisiert, kultiviert versteht, und in das sie Jason bei Christa Wolf – anders als in fast allen anderen Erzählungen – nicht aus großer, leidenschaftlicher Liebe gefolgt ist, sondern aus Opposition gegen das verbrecherische Regime ihres Vaters.

Denn natürlich handelt Medea nicht kontextlos, der ganze Mythos webt sich eigentlich ums goldene Vlies, ein Stück Fell, das mächtig machen kann und reich. Ein antikes Symbol für die menschliche Gier nach Materiellem, die so zügellos ist, dass ihr Menschen geopfert werden. Und so hat Medea zugesehen, je nach Auslegung auch geholfen, wie ihr Vater, König Aietes von Kolchis seinen Gast Phryxus tötet.

Medea ist auch eine Kindermörderin

Am Hans Otto Theater inszeniert Alexander Nerlich aber gerade eine andere Medea-Version, nämlich „Das goldene Vlies“ von Franz Grillparzer. Am heutigen Freitag ist Premiere. In diesem Stück von 1821 ist Medea auch eine Kindermörderin. „Das ist der Punkt, der mich am meisten von ihr trennt, der am schwierigsten ist und den wir noch nicht zu Ende probiert haben“, sagt Marianna Linden, die Nerlichs Medea spielt. „Es ist da natürlich eine große Verzweiflung, sie liebt diesen Jason und die Kinder sind das letzte Bindeglied zwischen den beiden, aber auch die Zukunft für das Königshaus. Indem Medea sie tötet, nimmt sie auch dem korinthischen Königshaus die Zukunft.“

Marianna Linden sitzt in einem ziemlich trostlosen Raum im Obergeschoss des Theaters, in dem der Flügel unter einer grauen Schutzhülle verpackt ist und durch die großen Fenster nur trübes, nebliges Licht fällt. Sie spielt auch nicht, erschöpft von den Proben sitzt sie einfach da und denkt leise über ihre Rolle nach. Trotzdem schafft ihre leicht raue Stimme etwas Großes: Sie gewährt schon jetzt einen kleinen Schimmer von dem, was in Medea vorgeht. Die ja mit dem, was sie am Ende tut, der Rolle entspricht, die ihr die Korinther zugeschrieben haben: die Raue, die Rohe, die Wilde aus dem barbarischen Kolchis. Die Kriegerin. In gewisser Weise ist sie aber auch ein Flüchtling, eine, die sich integrieren will. Die aber in Korinth nie ganz ankommt. Die zwar dort eine kurze Utopie mit Jason lebt, sich aber am Ende nicht verbiegen lassen, sich nicht völlig assimilieren will. Und die dann im Moment größter Verlassenheit nicht davor zurückschreckt, das Leben ihrer beiden störrischen kleinen Jungen auszulöschen. „Es gibt Inszenierungen, da sind es Säuglinge“, sagt Linden. Aber hier, und das macht es noch mal schwerer für sie, sind es schon kleine Menschen, die ein Stück ihres Lebens gelebt haben.

Bei Regisseur Alexander Nerlich ist alles komplexer

Wie um den Gedanken abzuschütteln, nimmt Marianna Linden schnell ein bisschen Distanz ein. Den Kindermord, sagt sie, hat wohl erst Euripides in den Mythos hineingeschrieben, als Schockmoment. „Als wollte er dem Matriarchat eines auf den Deckel geben.“

Bei Regisseur Alexander Nerlich ist natürlich alles komplexer. „Mir gefällt es schon, dass er kein fertiges Bild mitbringt, sondern mit uns arbeitet“, sagt Linden. Und vor allem gefällt ihr, dass Medea hier wirklich daran leidet, dass sie Aietes beim ersten Mord beistehen musste. „Sie meditiert lange darüber, weil sie es verarbeiten muss. Abschließen will mit dieser brutalen Welt, aus der sie kommt und umso offener ist für die Versuchung, mit Jason in eine neue Welt zu fliehen.“

Medea ist gespalten

Und wie alle Traumatisierten bei Nerlich, wie bei seinem Potsdamer „Faust“ von 2014, ist auch Medea gespalten. Die Kind gebliebene Medea wird deshalb Renée Carlotta Gerschke (im Wechsel mit Clara Sonntag) spielen, die entkommene, erwachsene Medea Marianna Linden. Wäre das Ganze Psychoanalyse und nicht Theater, würde man Medea raten, sich mit dem inneren Kind auszusöhnen.

Aber es ist Drama, und so geistert das Kind als Kraft aus der alten Welt herum. Ihrer inneren Spaltung entgegensteht – anfangs – ihre Verschmelzung mit Jason. Aber wie aus jeder leidenschaftlichen Liebe wird daraus irgendwann Gewöhnung – und Enttäuschung. Sie hat für Jason alles zurückgelassen, doch für ihn wird sie, die von seinen Leuten dauernd Diskriminierte, irgendwann zum Klotz am Bein. Hinter dem Alltag lauern auch heute noch dieselben Tragödien wie vor 2500 Jahren. Nur ist es in den antiken Stoffen direkter, brutaler. „Weil man nicht so tut, als wäre es nicht da“, sagt Linden. „Es“: der Abgrund der Existenz. Da ist noch nichts ironisch gebrochen. „Gleichzeitig brechen die Fratzen auch heute noch immer wieder durch.“

Sie lebt, bis heute

Vielleicht liegt es an diesem Rohen der klassischen Tragödien: dass sie in Potsdam nur selten zu sehen sind. „Die kamen leider nie so gut an“, sagt Marianna Linden. Einen Alltag, das, woran heute Beziehungen ersticken, kann man sich für Jason und Medea nicht vorstellen. Zwischen ihnen bleibt es ein Kampf, ein einander-gefallen-Wollen. Beneiden, findet Linden, muss man die beiden darum nicht, auch wenn es eben diese Leidenschaft ist, die man im Kino immer sehen will. „Aber real ist das doch sehr anstrengend, dieses permanente Wachsein, dem anderen genügen wollen.“

Sich wegwerfen, verschwenden, fixieren auf eine Liebe, das ist natürlich so gar nicht mehr zeitgemäß. Und trotzdem wird jeder Spuren und Splitter, Abblätterungen davon in sich finden, genauso wie in allen anderen Facetten Medeas. Sie lebt, bis heute.

Die heutige Premiere ist ausverkauft, laut Theater gibt es eventuell noch Restkarten an der Abendkasse. Weitere Aufführungen am 4. Februar (19.30 Uhr) und am 5. Februar (15 Uhr). 

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