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Kultur: Bis die Sonne untergeht

Die Fête de la musique von Ost nach West

Kaum zu schaffen: 100 Konzerte, an einem Mittwochabend, in einer Stadt, auf 40 Bühnen. Wenn man sich alles ansehen will, dann kann man nur die Quantität über die Qualität stellen – so viel wie möglich mitnehmen. Am besten also: einen Plan machen. Im Osten starten, in Babelsberg, und dann versuchen, sich so weit wie möglich Richtung Potsdam-West durchzuschlagen, die Konzerte in Drewitz und am Schlaatz ausklammernd. Am Ende wollte nicht mal das gelingen.

Denn allein Babelsberg hat einen derartig starken Magnetismus, dass man kaum noch weg kommt. Hier hat man auch die Ruhe weg: Schon das Konzert im Konsum, der Kneipe des gerade erst prämierten Thalia-Kinos, hat es nicht so mit der Pünktlichkeit – warum auch? Schließlich ist es lange genug hell, sodass man Used FO nicht auf den gesetzten Termin verfrachten muss, sondern locker eine halbe Stunde später auf die Bühne schickt. „Habt ihr Lust auf eine Mitfahrt in unserem Raumschiff?“, beamen sie gleich los. Raumschiff passt: Beatbox und Gesang aus einer Maschinerie, dazu eine verspielte Gitarre. Wow.

Aber die Mission lautet: möglichst viel sehen. In der Karl-Liebknecht-Straße, direkt vor der Fleischerei Meissner, klingt es gleich viel wehmütiger. Schmachtfetzen vom Metzger? Keine Zeit zu bleiben: also weiter ins Karl-Liebknecht-Stadion. Dort herrscht Familienatmosphäre, also bloß nicht auf die Kleinen treten, die sich überall tummeln, begleitet durch den heute nicht enden wollenden Soundcheck von Krogmann. Die sind zwar schon eine halbe Stunde über der Anfangszeit, schnalzen aber noch tapfer „Eins, zwo“ ins Mikro. Nach vielen nervigen Minuten gibt es dann etwas Musik, Lyrik mit Saxofon – der träge Soundcheck hat aber schon die Lust am Zuhören aufgefressen. Lieber weiter in die Innenstadt.

Dort braucht man nur der Lautstärke am Alten Markt zu folgen, Ska schallt durchs Zentrum, die Calcatoggios stehen auf der Bühne – wunderbar gemacht, aber nach so viel Beschallung schreit das Herz doch lauter nach Punkrock, nicht nach Ska. Den gibt es auch nicht im Pub à la Pub, das eine Metal-Bühne aufgebaut hat: Metron sind gerade durch, deshalb heiser Motörhead aus der Konserve. Nicht das Gelbe vom Ei; also weiter Richtung Rechenzentrum. Auf dem Weg an der Brache der Garnisonkirche vorbei, aber dort ist niemand, nicht mal ein Grammofon, aus dem Richard Wagner tönt. Dafür auf dem Hof des Rechenzentrums wieder Ska: Hinsetzen Pause spielen dort, die Band glüht vor Funk, ein Heidenvergnügen. Dennoch: Punkrock statt Funkrock, die Mission geht weiter.

Die Erlösung gibt es dann im Kuze, auch wenn dort bei Ankunft auch mal wieder Funkstille ist. Gut gefüllt ist der Hof dennoch, und kurz nach der akustischen Pause spielen Complete Crap. Da hüpft das Herz, schräger Punkrock vom feinsten! Aber es treibt einen auch weiter voran: auf den Luisenplatz, ans Brandenburger Tor. Dort spielen Heyohmann, das Publikum sitzt, starrt, schluchzt fast. Der Abend wurde weich, mit dem zärtlichsten Sonnenuntergangssoundtrack der Stadt. Hm, naja. Sonnenuntergang. Dabei sollte der Tag doch nicht enden. 

Punk war dann rettenderweise nicht weit weg: In der Lindenstraße dampfte der denkmalgeschützte Boden, denn Cherry Bomb standen darüber auf einer Bühne. „Schönen guten Morgen!“, schnarrte Sänger Fleisch in die noch nicht einmal untergegangene Sonne, und schon glühte es unter den Füßen. So viel Rock’n’Roll hatte die Innenstadt seit Jahren nicht gesehen. Am Ende des Konzertes musste die Sonne dann doch noch untergehen. Widerwillig. Was bleibt ist die Gewissheit: Jetzt werden die Tage wieder kürzer. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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