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Im Gedenken. Das größte und wertvollste Grabdenkmal auf dem Klein-Glienicker Friedhof erinnert an den Berliner Schuhfabrikanten Karl Stiller.

© Manfred Thomas

Kultur: Betont laute Grabrede

Schmerzliche Erinnerungen auf dem Klein Glienicker Friedhof / Ein ganz persönlicher Spaziergang

Der russische Krimi-Autor Grigori Tschachartschwili, bekannt auch als Boris Akunin, schrieb, dass Friedhöfe das Geheimnis der Zeit bergen, die vor uns war. Aber sie flüstern auch von der Zeit, die nach uns kommt. Diese stillen Orte, so will uns der Schriftsteller sagen, sind das Gedächtnis von Städten und Dörfern. Im vergangenen Sommer besuchten wir vier Friedhöfe in und um Potsdam und haben Erstaunliches entdeckt, sei es in der Historie oder in der Kulturgeschichte, von Menschen, deren Schicksale uns berühren. Auch in den kommenden Wochen laden wir Sie wieder zu einem Streifzug zu Stätten der Ruhe und des Gedenkens ein. Nach den russisch-orthodoxen Friedhöfen (PNN vom 19. Juli) und dem Friedhof in Grube (28. Juli) folgt heute der in Klein-Glienicke.

Auf ihrem Grabstein steht Frau Puppendoktor. Die sehr humorvolle Ulla Linow-Wirth, die im vergangenen Dezember hochbetagt starb und auf dem kleinen Friedhof in Klein Glienicke beerdigt wurde, war mit ihrer Puppenklinik in der Brandenburger Straße stadtbekannt. Sie war auch ein Urgestein in dem kleinen Ortsteil von Potsdam. Seit 1931 wohnte sie dort und erlebte die verschiedenen Zeitenläufe ganz intensiv. Für Klein Glienicke, das als Enklave im Grenzbereich zwischen der DDR und Westberlin lag, waren sie teilweise sehr dramatisch.

Ab dem 13. August 1961 wurde für den Ort alles anders als zuvor. Es war für die Menschen 28 Jahre lang teilweise wie ein Gefängnis. Mauer und Stacheldraht waren eine ständige Bedrohung. Nur über eine schmale Brücke und mit einem Passierschein gelangte man in den Ortsteil. „Die Passagierscheinregelung war wahrscheinlich das, was uns Klein Glienickern das Leben am schwersten machte. Wir durften nie jemanden mitbringen, ohne einen monatelang vorher beantragten Passagierschein, der auch nicht immer genehmigt wurde“, schreibt Ulla Linow-Wirth in dem Buch „Glienicke – Vom Schweizerdorf zum Sperrgebiet“ von Volker Arndt, das im coela Verlag Potsdam soeben neu aufgelegt wurde.

Eine besondere schmerzhafte Erfahrung mussten diejenigen machen, die den Tod eines nahen Menschen betrauerten. Nur mit Sondergenehmigung durften Verwandte, die nicht in dem Ortsteil wohnten, an den Beisetzungen teilnehmen. Oftmals wurde sie auch nicht erteilt und die im Westen lebten oder dorthin flüchteten, bekamen sie gar nicht. Doch der damalige Klein Glienicker Pfarrer Joachim Strauss hatte eine Idee, von der die Grenzer Wind bekamen. Ein Grenzoffizier informierte darüber die Stasi: „Bei Beerdigungen von älteren Personen in Klein Glienicke, die Verwandte in Westberlin haben, wird die Grabstelle so gewählt, dass am Tag der Beerdigung die Angehörigen und Bekannten von Westberlin unmittelbar im gegnerischen Vorfeld indirekt an der Beerdigung teilnehmen können. Dann erfolgte die Grabrede des Pfarrers S. betont laut, sodass die auf der Westberliner Seite stehenden Bürger die Rede mit vernehmen können.“ Ruth Herrmann, die an der Beisetzung ihrer Großmutter 1962 nicht teilnehmen durfte, schreibt in dem schon erwähnten Buch: „Mein Vater, meine Mutter und ihre älteste Schwester Gertrud standen in schwarzer Trauerkleidung unter Polizeischutz auf der Westseite an der Königsallee. Durch den Stacheldrahtzaun konnten sie beobachten, wie ein paar Meter weiter Großmutter zu Grabe getragen wurde. Das schlimmste Bild ist für mich das, auf dem meine Tante aus Werder, Tante Käthe, so traurig von drüben durch den Stacheldraht direkt in die Richtung meiner Mutter und Tante Gertrud guckt. Das hat sich tief in das Gedächtnis unserer Familie eingegraben“.

Der neue Teil des Friedhofs, auf dem beerdigt wurde, lag direkt an der Grenze zum Böttcherberg. Eines Tages entdeckten NVA-Soldaten wieder einmal eine Trauergesellschaft im „Feindesland“, die an einer Beerdigung „teilnehmen“ wollte. Mit einem großen Militärwagen versperrten sie die Sicht zum Friedhof. Doch stationierte US-Soldaten in Westberlin, die mit einem Hubwagen an der Grenze gerade patrouillierten, luden die Trauernden ein, auf die Plattform des Autos zu steigen, um von dort aus die Beerdigung zu verfolgen.

Seit ein paar Jahren markiert auf dem Klein Glienicker Friedhof eine gepflanzte Eibenhecke zur Königsallee den Mauerverlauf. Als die DDR-Zeit zu Ende ging, war der alte Teil ein vom tiefen Schlaf betroffenes Areal. Es war hier sehr still geworden, denn Beerdigungen fanden kaum noch statt, wenige auf dem neuen Teil. Besucher kamen selten. Efeu und Moos bedeckten die Grabstätten. „Geh, Wanderer, leise über meines Grabes Flur, ich schlafe nur", steht auf einem Grabstein. Fast nur Grenzsoldaten kamen hier mehr als 28 Jahre Tag und Nacht vorbei. Als nach 1989 das gespenstische und mörderische Mauer-Treiben auch in Klein Glienicke endlich ein Ende nahm, konnte der alte Friedhofsteil mit seinen wertvollen Grabsteinen allmählich aus dem Dornröschenschlaf erwachen.

Seit dem Jahre 2000 macht sich ein Freundeskreis e.V. für die historische Grablege stark. Unter der Leitung von Jutta Lütten-Gödecke und Heinz-Dieter Gödecke wurde der Friedhof in Zusammenarbeit mit der städtischen Friedhofsverwaltung und der Denkmalpflege wieder ein sehenswertes Kleinod der Potsdamer Gedenkkultur.

1781 übergab König Friedrich II. den dort angesiedelten Kolonisten ein Gelände, um ihre Toten zu bestatten. Im ältesten Grab, das noch erhalten ist, ruht Wilhelm Carl Christian von Türk. Im Juli 1846 starb er 72-jährig, hoch verehrt von den Klein Glienickern, Potsdamern und darüber hinaus. Auf dem schlichten Gedenkstein stehen die Worte: „Lasset uns Gutes thun und nicht müde werden“. Diese Aufforderung an andere war auch für Türk lebenslange Devise. Der „Königl. Preuss. Schulrat“ kaufte 1827 das Jagdschloss Glienicke und eröffnete darin die erste „Civilwaisenanstalt“ in Potsdam. Er wurde auch mit der Reorganisation des Schul- und Seminarwesens der Residenzstadt betraut. Voller Hochachtung wurde er als „Pestalozzi Potsdams“ betitelt. In der Nähe seiner Grabstätte pflanzte man zum 164. Geburtstag im vergangenen Jahr einen Erinnerungs-Maulbeerbaum. Denn Türk verbesserte auch die Lebenslage von Dorfschullehrern und warb für eine praxisorientierte Erziehung im Schulunterricht. Weiße Maulbeerbäume dienten der Seidenraupenzucht und damit der Seidenproduktion in Preußen.

Während des Friedhof-Spaziergangs fallen noch andere Namen von Persönlichkeiten auf, die hier zur letzten Ruhe gebettet wurden. Vor allem waren es Neubabelsberger: Bankiers, Industrielle, Künstler und Museumsdirektoren, die in der neuen Siedlung am Griebnitzsee seit Anfang des 20. Jahrhunderts lebten. Friedrich Sarre (1865-1945) gehört beispielsweise dazu. Der Orientalist, Archäologe und Kunsthistoriker war Direktor der Islamabteilung im Kaiser-Friedrich-Museum Berlin. Seine Sammlung islamischer Kunst galt in Deutschland als eine der bedeutendsten. Sarre wurde 2009 in Potsdam innerhalb der Ausstellung „Kunst ohne König“ gewürdigt. Den Philosophen Alois Riehl (1844-1924), ein Vertreter des Neukantianismus, hat man ebenfalls in Klein-Glienicke zu Grabe getragen. Der berühmte Architekt Mies van der Rohe, der auch ein Haus in der Bergstraße 3 (Heute Spitzweggasse) baute, wurde gebeten, das Grabmal für den Philosophen zu schaffen. Aber von dem Gedenkstein ist heute nichts mehr zu sehen. Der Garten des Riehl’schen Hauses wurde übrigens von dem Bornimer Gärtner Karl Foerster geschaffen. Auch der in Neubabelsberg wohnende Architekt, Gartengestalter und Keramiker Berthold Koerting (1885-1930) war mit Foerster bestens bekannt. Sein Sohn Heiner, der in Dornburg an der Saale als bekannter Keramiker wirkte, erinnerte sich an seinen Vater, dass „er Malerei und Architektur studiert, gemalt und kunsthandwerkliche Arbeiten ausgeführt hat, ehe er Gartenarchitekt wurde und in Neubabelsberg ein Kiefernwaldgrundstück erwarb und daraus den ersten bekannt gewordenen Naturgarten, auch Reformgarten, schuf“. An Koerting erinnert in Klein Glienicke ein schlichter Findling.

Der Friedhof wirkt wie ein Buch der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Man liest Namen, die einst ihre Zeit prägten und heute noch nicht ganz vergessen sind: Carl Stiller, ein bekannter Berliner Schuhfabrikant, der Buchhändler und Verleger Gustav Müller Grote (1867-1949), Otto Lipmann (1880-1933), der das erste experimentalpsychologische Institut in Neubabelsberg eröffnete, der Direktor der Berliner Sternwarte Karl Hermann von Struve (1854-1920), der seinerzeit hoch geschätzte Marinemaler Carl Saltzmann (1847-1923), der Architekt Carl Zaar (1849-1924), der unter anderen das Aquarium im Berliner Zoologischen Garten entwarf oder Gräfin Hedwig Rittberg (1839-1896), die 1875 als Krankenschwester den ersten Hilfsschwestern-Verein gründete. Ihren Gedenkstein ziert ein rotes Kreuz. Es erinnert daran, dass ihre öffentliche Wohlfahrtseinrichtung nach ihrem Tod dem Deutschen Roten Kreuz angegliedert wurde.

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