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Vincent Macaigne in „Hors du temps“

© Carole Bethuel

Berlinale-Film „Hors du temps“: Zurück im Lockdown

Olivier Assayas lässt Alter Egos von seinem Bruder und sich selbst aufeinanderhocken. Da werden Erinnerungen wach. Und nicht nur gute.

In der Anfangsphase der Corona-Pandemie grassierte auch davor die Angst: Massenhaft Nabelschauen von Künstlern im Lockdown. Der Wettbewerbsbeitrag „Hors du temps“ von Olivier Assayas kann sich eine solche schimpfen lassen – zum Fürchten ist sie allerdings nicht.

Die Alter Egos des Filmemachers und seines jüngeren Bruders Mischka Assayas heißen im Film Paul (Vincent Macaigne) und Etienne (Micha Lescot), von Beruf sind sie, wie im echten Leben, Regisseur und Musikjournalist. Als das Virus ausbricht, isolieren sich die beiden auf dem Land – zusammen mit ihren neuen Partnerinnen (Nine D’Urso und Nora Hamzawi) ziehen die geschiedenen Familienväter ins Anwesen ihrer mittlerweile verstorbenen Eltern. Und während sich das Dorf gewandelt hat, seit die Brüder ausgezogen sind, trotzt das alte Haus jeglicher Veränderung, bewahrt die Erinnerungen der Familie wie eine Zeitkapsel.

Essen, rauchen, putzen

Nur im Garten tut sich was. Eine alte Fichte, einst der erste Weihnachtsbaum der Mutter, verdrängt Millimeter für Millimeter eine Steintreppe, so stark sind ihre Wurzeln. Ihren eigenen nachzuspüren, dem können die Brüder im Lockdown nicht entgehen. In langen Dialogszenen lässt sie Assayas, der im vergangenen Jahr übrigens auch den offenen Brief in Unterstützung für den geschassten Berlinale-Leiter Carlo Chatrian unterschrieben hat, Episoden aus der Vergangenheit Revue passieren – dabei wird natürlich viel geraucht, getrunken und gegessen.

Irgendwann verstehen beide: Die Schablone aus dem Gedächtnis, das Bild, dass man in den letzten Jahren voneinander hatte, passt nicht mehr auf den Mensch der Gegenwart.

Im gleißenden Sonnenlicht des französischen Frühlings beschwört Assayas sehr eindringlich den ersten Ausnahmezustand der Pandemie. Diese Phase, in der die Wahrnehmung von Zeit sich schlagartig veränderte, in der die Gedanken ständig um Leben und Tod kreisten, man sich an seine Nächsten klammerte und sie dabei plötzlich mit anderen Augen sah.

Dass sich dieses Gefühl bei „Hors du Temps“ unvorbereitet wieder einstellt, ist erstmal ein Erlebnis. Den Brüdern allerdings dabei zuzuschauen, wie sie immer wieder David Hockney zitieren, über Musik fachsimpeln, oder über Corona-Vorsichtsmaßnahmen streiten, erinnert auch an etwas anderes: Der Lockdown war nicht nur dramatisch – sondern schnell auch ganz schön zäh.

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