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Kultur: Antje Strubel

1. Ich schreibe an einem Roman mit dem Titel „Blaue Frau“.

1. Ich schreibe an einem Roman mit dem Titel „Blaue Frau“. Er erzählt von einer jungen Frau aus dem tschechischen Riesengebirge, die aufbricht, um im Westen Europas ihr Glück zu suchen, und in das Gerangel um Macht und die Deutungshoheit der Geschichte gerät, das zur Jahrtausendwende nicht nur auf der großen Bühne in Brüssel zwischen Ost- und Westeuropa tobt, sondern auch da, wo es um persönliche Vorteile und private Machtgelüste geht. In einem Gutshaus auf der deutschen Seite der Oder begegnet sie einem ost- und einem westdeutschen „Macher“, gegen die sie beide später Anklage erheben wird.

2. Ich lese den neuesten Roman des schwedischen Autors Kjell Westö „Der schwefelgelbe Himmel“, der noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, Julia Schochs Buch „Schöne Seelen und Komplizen“, das mich in meine Abiturientenzeit zurückversetzt und wunderbar weise und komische Passagen hat, und erneut Heinrich von Kleists Theaterstück „Penthesilea“, um es in einem Essay für die Salzburger Festspiele als atemberaubend modernen Entwurf einer Transidentität zu schildern.

3. Zu diesem Sommer passt Christina von Brauns großes kulturhistorisches Werk „Blutsbande“, in dem sie der sozialen Gemachtheit von Verwandtschaftsverhältnissen von der Antike bis heute nachspürt und daraus etwas Entscheidendes über die Gegenwart ableitet: Jede funktionierende Gesellschaft zeichnet sich durch Mobilität aus, dadurch, dass sich jeder im Laufe des Lebens wirtschaftlich weiterentwickeln kann. Diese Mobilität ist stagniert; die Reicheren werden reicher, aber sozialer Aufstieg ist so gut wie unmöglich geworden. Rechte Bewegungen greifen die daraus resultierende Unzufriedenheit auf: Statt aber die anzugreifen, deren Gier die Ursache der Stagnation ist, wird die Wut auf jene umgeleitet, deren Identitäten sich mit Mobilität und Flexibilität traditionellerweise verbinden – Migranten, Frauen, queere Menschen. Mobilität wird zu etwas Negativem erklärt, was vor allem der Sicherung von Macht und Reichtum der oberen Schichten dient. Davon kündet auch das „Machtgen“, das seit neuestem erfunden wird, um eine ähnliche unveränderbare Auserwähltheit zu begründen, wie es der Adel einmal mithilfe des „blauen Bluts“ tat. Die Rechten sind letztendlich die Funktionäre einer kleinen, auf Kosten anderer reich gewordenen Kaste, was sich am trumpschen Nationalismus ebenso beobachten lässt wie an der AfD.

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