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Ultraorthodoxe jüdische Männer beten auf einem Hügel in Israel.

© dpa/Ariel Schalit

Kommt jetzt die Wehrpflicht für ultraorthodoxe Juden?: Warum Israels Regierung die nächste Krise droht

Strenggläubige in Israel waren lange vom Wehrdienst ausgenommen. Durch eine Entscheidung des Obersten Gerichts könnte diese Ausnahmeregelung kippen. Experten ordnen die Entscheidung ein.

Israel droht die nächste Krise. Geht es nach dem Obersten Gericht des Landes, gilt künftig auch für ultraorthodoxe Juden die Wehrpflicht. Am Donnerstagabend entschieden die Richter in einer einstweiligen Verfügung, dass die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu diejenigen ultraorthodoxen Schüler einer religiösen Schule, sogenannten Jeschiwas, nicht mehr finanzieren darf, die im wehrpflichtigen Alter sind. Das Urteil könnte Israel entscheidend verändern.

Der Beschluss tritt bereits zum 1. April in Kraft. Die Entscheidung ist zwar nicht endgültig, im Mai soll ein erweitertes Gremium von Richtern offene Punkte klären. Und doch kann die Frage der Wehrpflicht für Ultraorthodoxe, auf Hebräisch „Haredim“ genannt, zur Gefahr für die Regierung von Benjamin Netanjahu werden.

Die Wehrpflicht für Ultraorthodoxe sorgt schon lange für Unmut in der Gesellschaft. Im jüdischen Staat sind grundsätzlich alle zum Militärdienst verpflichtet: Männer müssen 32 Monate zur Armee, Frauen 24 Monate. Ultraorthodoxe, die bis zu einem bestimmten Alter eine religiöse Schule besuchen, waren jedoch durch eine Ausnahmeregelung vom Militärdienst ausgenommen.

2017 wurde die Ausnahme für ungültig erklärt

2017 jedoch erklärte das Oberste Gericht diese Ausnahme für ungültig. Die Regierung sollte ein neues Gesetz zur Wehrpflicht ausarbeiten. Das Oberste Gericht ordnete an, die Regierung solle erklären, warum es keine Gesetzgebung für die Einberufung Ultraorthodoxer gebe und warum immer noch Jeschiwas finanziert würden, obwohl junge ultraorthodoxe Männer von der Wehrpflicht befreit seien. Kurz vor Ablauf dieser Frist im vergangenen Jahr ordnete die Regierung das israelische Militär an, die Jeschiwa-Schüler nicht einzuziehen. Man wolle eine Lösung finden, hieß es. Diese Frist läuft Ende März 2024 ab.

Die Regierung kam jedoch in den vergangenen Wochen nicht zu einer Lösung. Netanjahu hatte deshalb zuletzt um eine Verlängerung der Frist von 30 Tagen gebeten. Nun entschied jedoch vorläufig das Gericht, dass ein Teil der Ultraorthodoxen ab Montag keine Finanzierung für das Tora-Studium mehr bekommen soll.

Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, sieht in der Entscheidung auch eine Selbstbehauptung des Gerichts in einem polarisierten politischen Umfeld. „Wir sehen hier die Wiederaufnahme des in Israel schwelenden Konflikts vor dem 7. Oktober 2023: Der Oberste Gerichtshof möchte seine Autorität als unabhängige Instanz gegenüber einer Regierung durchsetzen, die seine Befugnisse einzuschränken versucht“, sagte er dem Tagesspiegel.

Die umstrittene Justizreform der Regierung von Benjamin Netanjahu, sorgte im vergangenen Jahr für eine schwere innenpolitische Krise.
Die umstrittene Justizreform der Regierung von Benjamin Netanjahu, sorgte im vergangenen Jahr für eine schwere innenpolitische Krise.

© dpa/Ohad Zwigenberg

Die israelische Regierung hatte im vergangenen Jahr versucht, eine Justizreform durchzusetzen, die die Befugnisse des Obersten Gerichts stark eingeschränkt hätte. Monatelang gab es deswegen Proteste gegen die Regierung Netanjahu, Israel steckte in einer schweren politischen Krise. Das Thema Wehrpflicht sei aber eine Frage, „in der das Gericht die Mehrheit des Volkes hinter sich hat und die die Regierungskoalition in eine schwere Krise treiben könnte“, sagt Brenner.

Die Regierung muss sich also auf ein Gesetz zur Wehrpflicht einigen – an dieser Stelle droht die innenpolitische Krise. Denn Netanjahus Regierung besteht zwar einerseits aus streng-religiösen Parteien. Aber in seiner eigenen Partei, dem Likud, sind längst nicht alle für eine Ausnahmeregelung für Ultraorthodoxe. Das hat vor allem mit dem 7. Oktober zu tun, an dem die Terrororganisation Hamas mehr als 1200 Israelis tötete und Hunderte in den Gazastreifen verschleppte. Israel begann daraufhin in dem Küstenstreifen gegen die Hamas zu kämpfen.

„Die Haredim haben sich verkalkuliert“, sagt Aharon Eitan, der am Jerusalem Institute for Policy Research, zu den Ultraorthodoxen in der israelischen Gesellschaft forscht, dem Tagesspiegel. „Am 6. Oktober bestand die Chance, dass sie von der Einberufung befreit werden würden. Doch nach dem 7. Oktober änderte sich die Stimmung in Israel.“

Hunderte israelische Soldaten wurden seit Beginn des Krieges getötet

Seit Kriegsbeginn wurden Hunderte Soldaten getötet und Tausende verletzt. Die Armee braucht Soldaten. Woher die kommen sollen, dafür gibt es in der Regierung unterschiedliche Ansichten. „Netanjahu hat keine Mehrheit für ein Gesetz, das die Jeschiwa-Studenten vom Militärdienst befreit. Selbst sein eigener Verteidigungsminister Yoaw Gallant unterstützt das nicht“, sagt Eitan. Gallant hatte verdeutlicht, dass er eine Ausnahme für die Haredim nicht unterstütze.

Auch Michael Brenner sieht in der Frage der Wehrpflicht für die Haredim eine große Gefahr für die Netanjahu-Administration. „Die Regierung setzte die Befreiung der Ultraorthodoxen vom Wehrdienst gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes durch und möchte dies zu einer Zeit fortsetzen, in der der Wehrdienst für den Rest der Bevölkerung angesichts der Kriegssituation gerade ausgedehnt wird“, sagt Brenner. „Das stößt auf Unverständnis, auch bei Wählern der Regierungskoalition. Sollte andererseits die Regierung die Orthodoxen zum Wehrdienst verpflichten, drohen deren Parteien, die Koalition zu verlassen.“

Die Koalition steckt in dieser Ehe fest – keine der Parteien hat ein Interesse daran, die Koalition aufzulösen, denn dann würde es für die Parteien noch schlimmer werden.

Aharon Eitan, Forscher am Jerusalem Institute for Policy Research.

Aharon Eitan sieht allerdings, dass die Koalition aneinander gebunden ist. „Die Koalition steckt in dieser Ehe fest – keine der Parteien hat ein Interesse daran, die Koalition aufzulösen, denn dann würde es für die Parteien noch schlimmer werden“, sagt er. 

Wie viel Sprengkraft in dem Thema steckt, zeigen die Reaktionen auf die Entscheidung des Gerichts. Der Vorsitzende der ultraorthodoxen Schas-Partei, Arye Deri, nannte sie ein „Kainsmal und eine noch nie dagewesene Schikane gegen Torastudenten im jüdischen Staat“.

Bereits vor einigen Tagen hatte Rabbi Yitzhak Yosef, einer der beiden Oberrabbiner Israels, mit einem Massenexodus gedroht, sollten die Haredim zum Militärdienst gezwungen werden. Benny Gantz, Mitglied im israelischen Kriegskabinett und größter politischer Rivale Netanjahus, hingegen begrüßte die Entscheidung. Er hatte zuvor damit gedroht, das Kriegskabinett zu verlassen, sollten die Haredim weiter von der Wehrpflicht ausgeschlossen bleiben.

In den frühen Jahren des Staates war die Frage der Wehrpflicht nicht so zentral, da die Haredim einen sehr kleinen Bevölkerungsanteil ausmachten.

Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dass die Frage nach der Wehrpflicht so einen hohen Stellenwert hat, liegt auch daran, dass ihr Anteil in der Gesellschaft stark wächst. „In den frühen Jahren des Staates war die Frage der Wehrpflicht nicht so zentral, da sie einen sehr kleinen Bevölkerungsanteil ausmachten“, sagt Michael Brenner. „Durch ihre hohe Kinderzahl, mit durchschnittlich knapp sieben Kindern pro Familie, ist ihr Bevölkerungsanteil auf bereits mehr als zwölf Prozent angewachsen.“

Dadurch wächst auch die Spannung zwischen dem liberalen und dem orthodoxen Teil der israelischen Gesellschaft. „Die Haredim profitieren von dem pluralistischen Israel. Jeder kann so leben, wie er will“, sagt Aharon Eitan. „Die israelischen Steuerzahler, insbesondere die starken Steuerzahler, wie etwa die im Technologie-Sektor, finanzieren die Haredim. Aber nach dem 7. Oktober wurde die Situation zu einer Frage von Leben und Tod. Das hat die Debatte in Israel angeheizt.“

Eine große Mehrheit der Israelis ist also dafür, dass die Ultraorthodoxen im Militär dienen. Mehr als 80 Prozent der jüdischen Öffentlichkeit sind nach einer Umfrage des Jewish Policy Instituts der Meinung, „dass die Politik der Befreiung von Jeschiwa-Studenten vom Wehrpflicht ,geändert’ werden sollte.“ Sollte es tatsächlich dazu kommen, müsste die Netanjahu-Regierung nach dem Streit um die Justizreform die nächste innenpolitische Krise aushalten.

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